EUROPA/FRANKREICH - Eine “kleine Theologie der Mission” von Kardinal Aveline

Samstag, 4 Mai 2024 missionare   mission   theologie   dialog   islam   zweites vatikanisches konzil  

Von Marie-Lucile Kubacki*

Wir veröffentlichen den Beitrag der Journalistin Marie-Lucile Kubacki anlässlich der Präsentation des Buches "Il dialogo della salvezza. Piccola teologia della missione“ (Dialog des Heils. Kleine Theologie der Mission) von Kardinal Jean-Marc Aveline, Erzbischof von Marseille. Der nun von der „Libreria Editrice Vaticana“ herausgegebene Band ist die italienische Fassung des französischen Originals "Dieu a tant aimé le monde - Petite théologie de la mission" (Editions du Cerf) und wurde am Donnerstag, den 2. Mai, in Rom im Konferenzsaal der Gemeinschaft von Sant'Egidio in Rom vorgestellt wurde.
Rom (Fides) - Als ich vor etwa fünfzehn Jahren meine journalistische Laufbahn in Frankreich begann, war das Wort "Mission" noch etwas tabuisiert und schwer zu gebrauchen, weil es im Verdacht stand, mit einer Art Rechtfertigung für Proselytismus verbunden zu sein, manchmal mit Schatten, die mit Verbindungen zur Kolonisation einhergingen waren, mit dem Verdacht eines mehr oder weniger verdeckten Kulturimperialismus und sogar mit einer Art stiller Kritik am Zweiten Vatikanischen Konzil und seinen Positionen zum Dialog mit anderen Religionen. In der Tat wurde ich oft von Lesern nach dem Zweck und dem Sinn der Mission gefragt. Warum in andere Länder, zu anderen Völkern, in andere Kulturen gehen? Als ich nach und nach mit Missionaren zusammentraf, stellte ich fest, dass es keinen gab, der nicht die Frage nach dem „Warum“ stellte, insbesondere in den entferntesten Ländern. Und dieses „Warum“ war untrennbar mit einem „Wie“ verbunden. Nun wird dieses „Warum“ auch in Europa immer häufiger gestellt, und das Buch von Kardinal Jean-Marc Aveline hat mich besonders interessiert, weil es diese Frage aufgreift.
Ich möchte mit dem Nachwort beginnen, denn dort findet sich der Schlüssel, der das ganze Thema erhellt. Um die Dynamik zu beleuchten, die den Missionar von zu Hause wegtreibt, zitiert der Kardinal das Lied des belgischen Sängers Jacques Brel "Quand on a que l'amour" - Wenn man nur Liebe hat - und verwebt es mit der Geschichte seiner Schwester Marie Jeanne, die auf ihrem Krankenhausbett diese wenigen Worte hinterließ, die ihr ganzes Leben zusammenfassten: "Man muss nur lieben". Der Grund für die Mission ist also für den Christen und für die Kirche die Antwort auf den Aufruf zur Nachahmung Christi, im Sinne der Nachahmung seiner Liebe zur Welt, die sich in seinem Heilsplan für die Menschheit verkörpert, wie der heilige Johannes, von dem das Buch im französischen Original seinen Titel hat, schreibt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird“ (Joh. 3,16-17).
Doch sobald dies erkannt ist, stellt sich sofort die Frage nach dem "Wie". Kardinal Aveline schlägt drei Horizonte vor, um über die Modalitäten der Mission nachzudenken: "als Dialog des Heils", "im Horizont der Verheißung" und "in der Dynamik der Katholizität".
Bevor ich ins Detail gehe, ist mir aufgefallen, wie sehr seine Theologie der Mission in der Erfahrung verwurzelt ist, in der Erfahrung seines gesamten Lebens. Zunächst die grundlegende Erfahrung, die Wunde des Exils, der Entwurzelung der „Pieds-noirs“ aus dem Land Algerien. "Sie kennen aus eigener Erfahrung die Leiden jeder Migration und spüren am eigenen Leib, dass die Liebe zur Heimat niemals aus dem Herzen eines Menschen gerissen werden kann. Sie haben den Schmerz erlebt, nicht akzeptiert zu werden, die Verachtung ihrer Herkunft, das Unverständnis, das aus Vorurteilen resultiert, die Ausgrenzung aufgrund zu vieler Missverständnisse. Aber ich kann auch zeigen, dass Geschwisterlichkeit zwischen Juden, Christen und Muslimen möglich ist, wie damals, als wir in Konstantin, Oran oder Algier unter der Sonne zusammenlebten und nach und nach die Fäden dieser kulturellen Mischung, die uns geprägt hat, miteinander verwoben wurden, indem wir Kémias und Mounas teilten, bevor ein perverser Wind von anderswo in die Straßen unserer Städte eindrang, Misstrauen einflößte, Freundschaften zerbrach und Hass destillierte. Ein giftiger Wind, der heute leider wieder an vielen Ufern des Mittelmeers weht".
Auf diese Entwurzelung folgt die harte Erfahrung der Migration, die durch die Wärme von Familie und Freunden und die Liebe zu einem neuen Land ermöglicht wird. Es folgten auch seelsorgerische und intellektuelle Erfahrungen, die ihn bald dazu brachten, sich auf den interreligiösen Dialog zu konzentrieren, und zwar durch die Gründung und zehnjährige Leitung des „Institut de Science et de Théologie des Religions“ in Marseille, einer echten Schnittstelle des theologischen und kulturellen Ferments des Mittelmeerraums. Drei grundlegende Tiegel, die uns daran erinnern, dass der Missionar, auch wenn er berufen ist, sich geografisch, kulturell und geistlich zu bewegen, immer mit seiner Geschichte ankommt und dass diese Geschichte, wenn sie wie in diesem Fall neu gelesen wird, eine Quelle lebendigen Wassers ist, aus der man eine dynamische Vision des missionarischen Engagements schöpfen kann.
Das Buch beginnt mit einer Reflexion über die Mission als Dialog des Heils. Wenn ich diese Definition mit meiner eigenen Erfahrung als Journalistin vergleiche, bin ich beim Verfassen von Artikeln zu diesem Thema oft auf eine gewisse Spannung gestoßen, zwischen denen, die sich vor dem Wort Dialog fürchteten, weil sie darin eine relativistische Auffassung sahen, und denen, die stattdessen den Dialog als eine verführerische Methode ansahen, deren Ziel es wäre, die Menschen von Werten zu "überzeugen" oder zu mobilisieren.
In der Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt es: "Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigen Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchen von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet". Wie aber ist dieser Text zu verstehen? Der Kardinal geht vom Zeugnis der Überlebenden von Tibhérine, Amédée und Jean-Pierre, aus, einem Zeugnis der Verbundenheit und Freundschaft mit ihren muslimischen Nachbarn. Engagement: Das Wort ist wichtig, denn Offenbarung bedeutet im Hebräischen "Wort, das Aktion ist". Gott will sich für den Menschen einsetzen, indem er durch das Gespräch, das nicht nur ein Mittel, sondern eine Modalität dieses Bundes ist, einen Bund schließt. Der Missionar ist in der Tat ein Mensch, der in ständigem Dialog steht; der Dialog als eine Form der Liebe zu den Menschen, eine Erfahrung der liebenden Neugierde gegenüber dem Anderen und auch der Unentgeltlichkeit.
Einige junge christliche Konvertiten, Katechumenen oder Sinnsucher, diese so genannten spirituellen Nichtreligiösen, in Europa oder anderswo, haben mir manchmal anvertraut, dass eines der Hindernisse auf ihrem Weg zur Kirche die Angst war, zurecht gewiesen zu werden. In einigen Ländern, in denen das Christentum noch wenig bekannt ist, wird diese Angst durch eine doppelte ideologische und politische Absicht der Kirche verstärkt, die doppelt zu diesem Gebot der Unentgeltlichkeit aufgerufen ist, weil es zu ihrem Zeugnis gehört und sie kein Gegenzeugnis geben darf. Der Autor warnt: "Die Tatsache, dass die Freiheit sowohl am Anfang als auch am Ende des menschlichen Abenteuers steht, bewahrt uns davor, der Versuchung zu erliegen, das missionarische Handeln auf einen mechanischen Prozess zu reduzieren, was einer Instrumentalisierung der Begegnung gleichkäme: Der Dialog ist viel mehr als eine Bedingung der Möglichkeit für die Verkündigung, die ihr Ziel wäre. In der Tat ist das Angebot des Dialogs bereits eine implizite Verkündigung der Frohen Botschaft eines dreieinigen Gottes, eines Gottes, der in sich selbst eine Beziehung ist, eine Beziehung der Liebe, und der sich offenbart, indem er jedem Menschen eine respektvolle Nähe anbietet, die den Dialog des Heils eröffnet".
Doch so unentgeltlich dieser Dialog auch sein mag, er ist nicht nur irgendein Gespräch. Es geht darum, das Evangelium anzuvertrauen, das das lebendige Wort ist. Man kann sich also fragen, was es bedeutet, das Evangelium anzuvertrauen. Hier zitiert der Kardinal den Franziskaner Eloi Leclerc: "Einem Menschen das Evangelium zu verkünden bedeutet, ihm zu sagen: "Auch du bist von Gott in Christus geliebt". Es genügt nicht, ihm zu sagen: Du musst überzeugt sein. Es reicht auch nicht aus, davon überzeugt zu sein: Wir müssen uns diesem Menschen gegenüber so verhalten, dass er etwas in sich spürt und entdeckt, das gerettet ist". Dieser Satz erinnerte mich an ein Gespräch über die Mission mit Schwester Lucia Bortolomasi, der Generaloberin der Consolata-Missionsschwestern, die Worte zitiert hatte, die sie inspiriert hatten: "Wenn du Gott im Herzen auch nur eines Menschen zum Schwingen bringst, wirst du nicht umsonst gelebt haben".
Dabei bietet die Kirche nicht nur an oder schlägt vor, sondern ist selbst von der Begegnung herausgefordert. Herausgefordert nicht in einem relativistischen Sinne, sondern im Gegenteil, aus der Reibung mit dem Anderen entspringt der Funke, der zur eigenen Umkehr aufruft. Jeder Missionar, der mit Nichtchristen in Berührung kommt, macht die Erfahrung, dass er auf seine eigenen Fragen zurückgeworfen wird und dazu getrieben wird, tiefer nach Wissen und Glauben zu suchen. Der Jesuit Michel de Certeau, den der Kardinal zitierte, drückte es treffend aus: "Wir entdecken Gott in der Begegnung, die er hervorruft". Mit "wir" sind die verschiedenen Dialogpartner gemeint, denn die Bekehrung des anderen geht mit der des Missionars selbst einher. Die Begegnung, die der Missionar herbeiführt, d.h. die Begegnung zwischen den Menschen und Gott selbst, ist eine geheimnisvolle Gleichung mit mehreren Unbekannten.
Kardinal Aveline zitiert ausführlich die Überlegungen von Joseph Ratzinger aus dem Jahr 1971, die in dem Buch "Das neue Volk Gottes" dargelegt wurden. Der künftige Papst schrieb damals: "Der Weg Gottes zu den Völkern, der sich in der Mission erfüllt, beseitigt nicht die Verheißung des Weges der Völker zum Heil Gottes, der das große Licht ist, das uns vom Alten Testament her vor Augen leuchtet; er bestätigt sie nur. Denn das Heil der Welt liegt in der Hand Gottes; es kommt aus der Verheißung, nicht aus dem Gesetz. Aber es bleibt unsere Pflicht, uns demütig in den Dienst der Verheißung zu stellen, ohne mehr sein zu wollen als unnütze Diener, die nicht mehr tun als das, was sie tun müssen".
Diese "unnützen Diener", die Missionare sind - und damit meine ich Christen im Allgemeinen, nicht nur Ordensleute -, stellen sich wie Paulus am Anfang der Kirche die von Kardinal Aveline zusammengefasste Frage: "Warum das Evangelium in einem fremden Land verkünden, um eine Botschaft zu verkünden, die selbst diejenigen, die uns nahe stehen, nicht annehmen wollen?" Paulus, der nach dem Martyrium des Stephanus und den darauf folgenden Verfolgungen von dieser Frage geplagt wurde, berichtet, dass er in Jerusalem betete und die Worte des Geistes empfing: "Brich auf, denn ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden!". So können auch die heutigen Missionare, die sich die Frage nach dem Warum stellen, die Antwort in der Heiligen Schrift, in der Nachfolge Christi und in der Liebe zu den anderen finden, die, wie Dante schrieb, die Sonne und die anderen Sterne bewegt. Und in dieses Motto fügt sich ein wahrhaft göttliches Geheimnis ein, nämlich das des Wirkens des Geistes und des Plans Gottes für jeden Menschen.
Und hier berühren wir einen sehr interessanten Punkt für unsere Kirchen, die besorgt sind über die gegenwärtige Entchristlichung der Gesellschaften, über die Tatsache, dass die Kirche in einigen europäischen Ländern zu einem sterbenden Überbleibsel angesichts einer zunehmend säkularisierten Politik und inmitten anderer Religionen zu werden scheint: das Verständnis von Katholizität in einer Minderheitensituation. Mir gefällt die vom Kardinal vorgeschlagene Definition des "eucharistischen Sauerteigs der Einheit", die offensichtlich an die Bilder vom Sauerteig im Teig erinnert. Katholizität nicht als eine Art Tentakel mit expansiven Zielen, sondern als die Verheißung eines Gottes, "der seine zerstreuten Kinder und sogar den Kosmos in einer großen Messe über der Welt wieder vereinen will, wie Teilhard de Chardin singt". Katholisch bedeutet 'dem Ganzen entsprechend'. (...) Auch wenn die Jünger nur zwei oder drei sind, die sich in seinem Namen versammeln, ist der ganze Gott in ihrer Mitte, nicht damit sie sich zufrieden geben, sondern damit sie sich nicht scheuen, den Menschen aller Kulturen, Sprachen und Religionen zu offenbaren, dass ihre tiefste Sehnsucht aus der Liebe Gottes zu ihnen kommt, noch bevor sie ihn kennen. Das ist es, was die Kirche "Katholizität" nennt".
Eine anregende Definition in dem Sinne, dass sie ein starkes Gegenmittel gegen die beiden Gefahren ist, die die Kirche im Allgemeinen und jeden Christen im Besonderen bedrohen: das Streben nach Effizienz und das, was Bernanos meinte, als er schrieb: "Der Dämon meines Herzens heißt 'à quoi bon'", was so viel bedeutet wie ‚wozu‘ oder ‚was soll’s‘.
(Fides 4/5/2024)

*Journalistin, Korrespondentin aus Rom der Wochenzeitschrift “La Vie”


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