ASIEN/AFGHANISTAN - Abzug der US-amerikanischen Truppen: “Es besteht die Gefahr einer Rückkehr zum Bürgerkrieg“

Freitag, 16 April 2021 politik   menschenrechte   soldaten   kriege   frieden   taliban  

Kabul (Fides) - "Das größte Risiko, das sich aus dem Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan ergibt, besteht darin, dass das Land in einen Bürgerkrieg zurückfallen könnte. Bisher haben die in den Doha-Abkommen vorgesehenen Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban nie ernsthaft begonnen oder zu keinen Ergebnissen geführt. Geplant war die Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit, um dann freie Wahlen zu organisieren, die entscheiden würden, wer regieren sollte. Aber wenn die beteiligten Parteien nicht miteinander sprechen, wie kann dann gemeinsam eine Regierung gebildet werden? Es ist viel einfacher, Waffen zum Sprechen zu bringen“, so der Obere der Missio sui iuris in Afghanistan, Pater Giovanni Scalese von den Barnabiten, in einem Kommentar zum Abzug der amerikanischen Truppen, die der Präsident der Vereinigten Staaten, Joe Biden, vor zwei Tagen bekannt gab und bis zum 11. September 2021 durchführen will.
"Auf jeden Fall“, so Pater Scalese weiter „selbst wenn die Taliban die Oberhand haben sollten, weil sie besser organisiert und finanziert sind, denke ich nicht, dass sie sich der Illussion hingeben sollten, das Islamische Emirat wiederherzustellen, als ob die vergangenen zwanzig Jahre nicht gegeben hätte. Sie werden zwar in der Lage sein, eine neue Verfassung durchzusetzen (schließlich sieht die derzeitige Verfassung bereits eine "Islamische Republik" vor), aber sie werden die Freiheiten nicht aufheben und Rechte nicht ignorieren können, an die sich die Afghanen in den letzten Jahren gewöhnt haben. Vergessen wir nicht, dass junge Menschen das Emirat nicht kennengelernt haben und vielmehr in dieser neuen Realität aufwuchsen. Entgegen der landläufigen Meinung sind Frauen in der afghanischen Gesellschaft stark, qualifiziert und engagiert. Es wäre undenkbar, sie wieder zu Hause einzusperren oder hinter einer Burka zu verstecken.“
Pater Scalese, der in Kabul auf dem Gelände der italienischen Botschaft wohnt und arbeitet, stellt fest, dass die Entscheidung des Truppenabzugs die Sicherheit und Wirtschaft des Landes gefährden könnte: "Wird die afghanische Regierung in der Lage sein, Sicherheit zu garantieren? Es ist angebracht, diesbezüglich einige Zweifel zu vorzubringen. Ebenso ist es mehr als legitim, Zweifel an der tatsächlichen Fähigkeit der Regierung zu hegen, die Staatsmaschinerie zu betreiben, ohne auf die finanzielle Unterstützung westlicher Länder zählen zu können. Es ist wahr, dass jetzt alle versichern, man werde Afghanistan nicht alleine lassen und es weiterhin unterstützen. Eine Sache sind jedoch die Interventionen der internationalen Zusammenarbeit, eine andere die Subventionierung der Institutionen. Es scheint mir, dass in den letzten Jahren nicht viel getan wurde, um die afghanische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, auch weil die Situation dies nicht zuließ. Ich weiß also nicht, wie das Land ohne funktionierende Wirtschaft vorankommen soll."
Nach Ansicht von Pater Scalese ist eine endgültige Beurteilung des Beschlusses der US-Regierung nicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht einfach: „Es ist besser, zunächst einmal einfach die Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen, die im Grunde bereits von der vorherigen amerikanischen Regierung getroffen wurde. Diejenigen, die glaubten, dass ein Machtwechsel im Weißen Haus ausreichte, um einen Meinungswechsel zu provozieren, haben offensichtlich nicht erkannt, dass das amerikanische militärische Engagement (und das anderer NATO-Länder) inzwischen nicht mehr nachhaltig und sondern vielmehr aussichtslos war. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation nun entwickeln wird. Als Christen können wir nur auf eine positive Entwicklung hoffen, die diesem Land nach so vielen Jahren der Gewalt endlich Ruhe schenken wird", schließt er.
Im April 1978 löste ein Staatsstreich und der Sturz der Regierung von Mohammed Daud Khan einen Krieg aus, der in Afghanistan über vierzig Jahren andauerte. Auf den Putsch folge die sowjetische Besetzung von 1979 bis 1989 und ab Anfang der neunziger Jahre ein blutiger Bürgerkrieg, der den Aufstieg der Taliban begünstigte. Das von ihnen gegründete Islamische Emirat Afghanistan blieb bis 2001 bestehen, als der US-amerikanische Präsident Bush das Land als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September angriff.
(LF-PA) (Fides 16/4/2021)


Teilen: