VATIKAN - Kardinal Schönborn an die neuen Bischöfe: “Der Hirte gehört zu seiner Herde“

Montag, 8 September 2025 bischöfe   kardinäle   priester   frauen   dikasterium für evangelisierung  

Von Gianni Valente

Rom (Fides) – Als die Sowjetunion 1940 ihre Kontrolle über Estland und die anderen baltischen Staaten ausweitete, hätte der deutsche Jesuit Eduard Profittlich, erster katholischer Erzbischof von Tallinn, nach Deutschland zurückkehren können. Er entschied sich jedoch zu bleiben, weil – wie er sagte – „der Hirte zu seiner Herde gehört“. Weniger als zwei Jahre später starb er in einem sowjetischen Gefängnis.
Am vergangenen Samstag, dem 6. September, wurde Erzbischof Profittlich selig gesprochen. Die Seligsprechungsfeier auf dem Freiheitsplatz in Tallinn wurde vom emeritierten Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn, geleitet. Zwei Tage später, am Montag, dem 8. September, ging der österreichische Kardinal in seinem Vortrag in der Aula Magna der Päpstlichen Universität Urbaniana vor mehr als 190 kürzlich ernannten Bischöfen aus fünf Kontinenten, die in diesen Tagen in Rom die für sie von den Dikasterien der Römischen Kurie vorbereiteten Schulungskurse besuchen, vom Martyrium Profittlichs aus.
Kardinal Schönborn sprach über die beherzte Haltung, mit der der Märtyrer-Erzbischof von Tallinn seine Berufung bis zum Ende gelebt hatte, und zitierte einen Satz aus seinen Schriften: „Als mir schließlich klar wurde, dass ich bleiben musste, war meine Freude so groß, dass ich aus Freude und Dankbarkeit das ‚Te Deum‘ betete...“.
Der Kardinal, der im vergangenen Januar seinen 80. Geburtstag feierte, sprach in seinem langen Vortraug auch über seine langjährigen Erfahrung als Theologe, Professor und Nachfolger der Apostel, de er den Empfehlungen für die neuen Bischöfe zugrunde legte.
„Nach 28 Jahren im Ordensleben war es für mich nicht leicht“, gestand der Kardinal, der dem Predigerorden (Dominikaner) angehört, „Bischof zu werden, ohne die Gemeinschaft der Brüder im Kloster“. „Ich habe mich sehr gefreut“, fügte er sofort hinzu, „als ich hörte, dass Papst Leo nicht allein im Apostolischen Palast leben möchte, sondern ein ‚vita communis‘ führen will, ein Leben in Gemeinschaft mit drei oder vier Mitbrüdern seines Augustinerordens.“
Der Kardinal erinnerte in diesem Zusammenhang an weitere Fälle von Bischöfen, die ihn mit ihrer Entscheidung überrascht hatten, ihr Amt in einem Klima der Brüderlichkeit und des Wohlwollens auszuüben. In Lissabon, so erinnerte er sich, „leben im Bischofshaus der Erzbischof, die Weihbischöfe, der Kanzler... Sie leben in einem Haus, haben einen gemeinsamen Tisch, beten gemeinsam.“ In Awka, Nigeria, „stand der Tisch des Bischofs für vorbeikommende Priester offen. Es war eine sehr lebendige Angelegenheit.“ Dagegen herrscht „Traurigkeit“, wenn eine Diözese gespalten ist und ein Klima des Misstrauens herrscht. „Ich habe Jahre gebraucht“, gestand der Kardinal und Theologe, „um mich von Vorurteilen zu befreien, die man mir ‚einflößen‘ wollte, wenn man zu schnell Kategorien und Etiketten wie links – rechts, traditionalistisch – progressiv, für mich – gegen mich verwendet... Nach und nach gelang es mir, diese „Stempel“ abzulegen und die Menschen, die Priester, die anderen Bischöfe einfach als Brüder in Christus zu sehen.“ „Wie kann ich“, fügte er hinzu, „Hirte sein, wenn ich selbst das Urteil Christi vorwegnehmen will, indem ich versuche, die Schafe von den Böcken zu trennen? Papst Franziskus hat uns so oft daran erinnert: todos, todos, todos! „Wer bist du, dass du richtest?“.

Nähe zu Priestern und Seminaristen

In den Diözesen, so der Kardinal weiter, „müssen die Priester spüren, dass der Bischof sie schätzt, achtet und liebt“. Sie dürfen nicht „monatelang“ auf einen Termin bei ihrem Bischof warten müssen, vielmehr wäre es sinnvoll, „einen wöchentlichen Tag für Gespräche der Priester mit dem Bischof“ festzulegen.
In Bezug auf die Priester seien die Bischöfe auch dazu aufgerufen, ihr Amt als Richter auszuüben und Missbräuche durch Mitglieder des Klerus zu bestrafen. „Wahrheit und Barmherzigkeit“, betonte der Kardinal, „gehören zusammen. Es ist schlimm, wenn Bischöfe ihre Priester einfach im Stich lassen, wenn diese eine Straftat begehen. Es ist auch schlimm, wenn sie sie nicht zur Reue, zur Sühne oder zur Bereitschaft zur Strafe führen oder wenn sie ihre Straftaten sogar vertuschen”. Und in jedem Fall „bleibt der Mitbruder, der eine Straftat begangen hat, mein Bruder, gerade weil er einen Fehler begangen hat”.
Darüber hinaus sollte der Bischof, wenn möglich – so ein weiterer Vorschlag des Kardinals –, seine Seminaristen persönlich kennenlernen. „Jedes Jahr“, erzählte er, „habe ich meinen Seminaristen die Möglichkeit geboten, an einer Studienwoche mit Urlaub teilzunehmen. Das war ein ‚Erbe‘ meines akademischen Berufs. In diesen Wochen haben wir große Meister wie Thomas von Aquin oder Augustinus, John Henry Newman oder Ratzinger gelesen“. Eine Initiative, die „in einem Seminar wie dem in Wien viel leichter verwirklicht werden kann als im ‚Bigard Memorial Seminary‘ in Enugu in Nigeria, das bei meinem Besuch mehr als 900 Seminaristen hatte“, räumte er ein.

Beziehungen zur Politik

Die Bischöfe müssten sich in ihren unterschiedlichen Kontexten – so Kardinal Schönborn – auch mit den Akteuren und Dynamiken der Politik auseinandersetzen. Er berichtete, dass er diese Erfahrung in einem der Länder gemacht habe, die einst als „katholisch“ galten und in den letzten Jahrzehnten von radikalen Säkularisierungsprozessen erfasst wurden. „Es hat mich immer beeindruckt”, fügte der emeritierte Erzbischof von Wien hinzu, „wie Papst Benedikt klar und weitsichtig positive Elemente in dieser Entwicklung erkennen konnte. Die Kirche will und kann keinen politischen Staat Gottes verwirklichen”.
Auf politischem Gebiet riet der Kardinal den neuen Bischöfen, „gute Beziehungen zu gläubigen Parlamentariern zu pflegen“, und erinnerte daran, dass „wir keine Politik machen müssen, denn sie sind die Vertreter des Volkes, das sie gewählt hat“.
In vielen Ländern, fügte er hinzu, befänden sich Politiker und Parlamentarier katholischen Glaubens „in einer Minderheitsposition“ und „dürften sich von ihren Bischöfen nicht allein gelassen fühlen“. Außerdem sei es immer ratsam, Gemeinsamkeiten mit „politischen Kräften zu suchen, die zwar nicht unseren Glauben teilen, aber für unsere grundlegenden menschlichen Prinzipien stehen. Zum Beispiel im Kampf gegen die Euthanasie“. Und wo immer möglich, sollten „gemeinsame Standpunkte“ mit anderen Religionsgemeinschaften gefunden werden, nach dem Vorbild von Papst Franziskus „durch seine Freundschaft mit Scheich Al-Tayyeb von der Al-Azhar-Universität in Kairo“.

Frauen und Arme in der Kirche

Unter den Jugendlichen der vielen Schulen, die er besucht habe, berichtete der Kardinal, habe er ein „fast völliges Unverständnis“ dafür erlebt, dass „in der katholischen Kirche Frauen nicht zu den geweihten Ämtern zugelassen sind“. Auch viele der neuen Bischöfe, fügte Schönborn hinzu, würden aufgefordert werden, „Ihre Stimme laut zu erheben“ gegen die Nichtzulassung von Frauen zu den geweihten Ämtern. „Ich bin fest davon überzeugt“, stellte der Kardinal klar, „dass die Lehre der Kirche in diesem Punkt unveränderlich ist, wie Papst Johannes Paul II. unter Bezugnahme auf eine zweitausendjährige Tradition feststellte und klar sagte: ‚Ich habe keine Macht, dies zu ändern‘“. Und zwar deshalb, weil „die Wahl der Zwölf durch Jesus und die ununterbrochene Tradition, dass dies eine verbindliche Anordnung Jesu darstellt, auch in der heutigen Generation gültig bleiben wird“ . Gleichzeitig werde jeder apostolische Dienst „im Sinne und im Geist Jesu gelebt“, der niemals „Frauen mit Überheblichkeit, Verachtung oder Arroganz behandelt hätte. Wie oft habe ich das unter uns Geistlichen erlebt“. Aus diesem Grund, so das Beispiel des Kardinals, „müssen Frauen in den Organen unserer Diözesen vertreten sein: in den Priesterseminaren! Im Bischofsrat und auch an der Spitze der vielen kleinen Gemeinden“. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart erinnerte der Kardinal daran, dass „sich Paulus uns seine Begleiter und die junge christliche Gemeinschaft zuerst im Haus der Lydia in Philippi versammelten“. Und auch heute „werden viele ‚Recintos‘ in Lateinamerika von Frauen geleitet, ohne Konkurrenz mit den Priestern!“.
Der Kardinal beendete seine Rede mit der Empfehlung an die neuen Bischöfe, auch mit den Armen in Gemeinschaft zu bleiben. Nicht nur, um davor bewahrt zu bleiben, „fromme Reden zu halten, ohne ihr wirkliches Leben zu kennen”, sondern vor allem, um durch ihr Glaubenszeugnis unterstützt und geleitet zu werden. „Ich werde den marokkanischen Muslim nie vergessen“, erzählte der Kardinal, „der am Stadtrand von Rom Taschentücher verkaufte, um seiner Familie etwas Geld schicken zu können... ‚Wie geht es dir?‘, fragte ich ihn immer. ‚Tout va bien‘, antwortete er und zeigte auf den Himmel.“
(Fides 8/9/2025)


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