ASIEN/OSTTIMOR - Kardinal do Carmo Da Silva: “Die Wunden sind durch Vergebung geheilt worden”

Montag, 9 September 2024 apostolische reise   papst franziskus   glaube   vergebung  

Agenzia Fides

Von Paolo Affatato

Dili (Fides) - „Papst Franziskus kommt, um unsere Identität als Katholiken, als Jünger Jesu Christi in dieser Ecke der Welt zu bestätigen“, so Kardinal Virgílio do Carmo da Silva, 56-jähriger Salesianer Don Boscos und seit 2019 Erzbischof von Dili, gegenüber Fides über die Erwartung und Freude der lokalen Kirche aus, am Vorabend der Ankunft von Papst Franziskus am heutigen 9. September, zur im Rahmen der dritten Etappe seiner apostolischen Reise in Osttimor ankommt. Als erster Kardinal von Osttimor lebt der Erzbischof das Charisma Don Boscos, dem das Wachstum und die menschliche und spirituelle Entwicklung junger Menschen besonders am Herzen lag: eine dringend notwendige Arbeit in einem Land, in dem 70 % der Bevölkerung unter 30 Jahre alt ist.


Was bedeutet der Besuch des Papstes in Osttimor für die kirchliche Gemeinschaft?

Es ist ein großes Geschenk. Es ist ein historischer Moment, den wir in Kontinuität mit dem Besuch von Papst Johannes Paul II. sehen, der vor 35 Jahren hierher kam. Damals forderte er uns auf, im Kampf für die Freiheit „Salz der Erde und Licht der Welt“ zu sein und in unserem Glauben unerschütterlich zu bleiben. Zehn Jahre nach dem Besuch von Papst Johannes Paul II., im Jahr 1999, hatten wir das Referendum über die Unabhängigkeit. Jetzt kommt Papst Franziskus, um unseren Glauben zu bestätigen, der ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur und Identität ist.

Wie kam der katholische Glaube nach Osttimor und schlug dort Wurzeln?

In Osttimor feierte die katholische Kirche im Jahr 2015 das 500-jährige Jubiläum der Evangelisierung. Portugiesische Missionare brachten uns das Evangelium. Die ersten Missionare der Dominikaner landeten 1515 in Oekussi, einem osttimoresischen Gebiet, das heute eine Enklave in Westtimor ist (das zu Indonesischen gehört, Anm. d. Red.). Die Geschichte der Mission ist auch von blutigen Momenten geprägt: Viele Missionare wurden von unserer eigenen Bevölkerung hingerichtet. Ich glaube, dass auch dank dieses Martyriums die Saat des Evangeliums in diesem Land aufgegangen ist. Ein zweiter Grund ist, dass der Glaube in den schwierigen Zeiten, die wir in jüngster Zeit während des Kampfes um die Unabhängigkeit erlebt haben, ein Trost war. Ein dritter Grund ist das Engagement für die Bildung, das wir heute fortsetzen müssen, um unsere Kultur zu durchdringen, wie es das Motto des Papstbesuches besagt: „Lasst euren Glauben zu eurer Kultur werden“.
In Timor gab und gibt es unter den indigenen Glaubensvorstellungen den Ahnenkult, ebenso wie den animistischen Kult der Bergverehrung. Auf diese traditionellen Glaubensvorstellungen wurde das Evangelium sozusagen aufgepfropft und brachte neues Licht. Die Missionare halfen den Menschen zu erkennen, dass der Gott, der über die Ahnen wacht, der Gott von Jesus Christus ist. Wenn es in der Bibel heißt, der Herr sei der Fels unseres Heils, war es für die Einheimischen ein Leichtes, ihn mit dem Berg in Verbindung zu bringen. So kam der Glaube mit den Traditionen und Volksbräuchen zusammen.


Was ist in jüngerer Zeit ab 1975 geschehen?

In der Geschichte der Kirche in Osttimor sind die 25 Jahre von 1975 bis 1999, in denen um die Unabhängigkeit von der Besatzungsmacht Indonesien gekämpft wurde, von besonderer Bedeutung. In dieser Zeit stieg die Zahl der Katholiken deutlich an (von 20 Prozent auf heute 90 Prozent, Anm. d. Red.), und viele Menschen ließen sich taufen, weil sie die Nähe und Unterstützung der Priester, Ordensschwestern, Ordensleute und Katecheten spürten, die während dieser langen Zeit an der Seite der Bevölkerung blieben. Viele erinnern sich daran, dass die Indonesier damals die Menschen zwangen, in ihren Ausweispapieren eine Religion anzugeben, und dass das Bekenntnis zum Katholizismus fast zu einer Art „Flagge“ wurde. Viele Timoresen erlebten und betrachteten diese Zeit als eine Zeit, die von der Vorsehung gelenkt wurde und Gottes Eingreifen in ihr Leben und ihre Geschichte gespürt. Die Kirche stand an der Seite des Volkes und prangerte die Gewalt an, die von der indonesischen Armee während der militärischen Besatzung ausgeübt wurde. Und so heißt es in der Präambel der Verfassung der neuen Republik, dass der Staat den Beitrag der Kirche im Kampf um die Unabhängigkeit anerkennt. In der Folge setzte sich die Kirche für die Versöhnung ein, und heute gibt es keinen Hass und keine Ressentiments gegenüber dem indonesischen Volk. Wir sind heute eine Demokratie mit einer katholischen Bevölkerungsmehrheit. Die Kirche leistet seit jeher einen großen Beitrag für die Nation, indem sie sich im Bildungswesen und in der Sozialarbeit engagiert und zum Beispiel viele Waisenhäuser betreibt.

Welche Rolle spielte der Glaube in der Zeit des Widerstands?

Unsere führenden Kirchenvertreter waren weitsichtig und vertrauten auf den Glauben an Gott. In unserer Geschichte erinnern wir uns an einen grundlegenden Vorgang, den wir das „Treffen von Los Palos“ nennen. Dort traf der Anführer der Widerstandskämpfer Xanana Gusmao (heute Premierminister, Anm. d. Red.) mit Don Martinho Da Costa Lopes (1918-1991), dem damaligen Apostolischen Vikar von Dili, zusammen, der ihm sagte: Wenn du im Kampf um die Unabhängigkeit erfolgreich sein willst, musst du die kommunistische Ideologie aufgeben. Gusmao hat diesen Rat beherzigt. Dieser historische Wendepunkt hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Gusmao, der gläubig ist und ein ehemaliger Seminarist war, unterstützte damals auch den Versöhnungsprozess dank seines religiösen Hintergrunds.

Wie sind die Beziehungen zu Indonesien heute?

Nach der Gewalt, die die Bevölkerung erlitten hat, gibt es heute keine Ressentiments und keinen Hass mehr. Es wurde ein Weg der Versöhnung eingeschlagen. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum wurde von der Regierung eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ eingesetzt, in der auch die Kirche vertreten war. Nach Zeiten der Unterdrückung hatten wir den Mut, an die Versöhnung mit dem Feind zu glauben. Heute kann man nicht sagen, dass alles vorbei ist. Es gibt Familien, die einen Verlust erlitten haben, oder Menschen, die Morde und Massaker begangen haben. Es ist ein Weg, den nur Gott leiten kann. Aber auf diesem Weg können wir die geistige Reife unseres Volkes erkennen: Wir geben nicht ganz Indonesien oder den indonesischen Bürgern die Schuld für diese dunklen Zeiten. Heute reisen die Timoresen frei und friedlich nach Indonesien und gehen dort ihren Geschäften nach, studieren und arbeiten im Nachbarland. Die Wunden sind durch Vergebung geheilt worden. Wir bauen weiterhin Brücken, um die Kommunikation zu erleichtern. Zwischen den Kirchen von Timor und den indonesischen Diözesen besteht beispielsweise eine sehr gute Zusammenarbeit, was sich auch anlässlich des Papstbesuches zeigen wird: Viele Indonesier aus Westtimor werden an der Messe mit dem Papst in Dili teilnehmen. Wir haben bei der Regierung vermittelt, damit dies ohne Hindernisse geschehen kann. Der Glaube eint uns.

Können Sie die heutige Realität der Kirche in Osttimor skizzieren?

Laut kirchlichen Statistiken beläuft sich die Bevölkerung auf 1,3 Millionen Menschen und 97,5 Prozent sind Katholiken, die sich auf drei Diözesen verteilen: Dili, Baucau und Maliana. Im ganzen Land gibt es 75 Pfarreien, etwa 150 Diözesanpriester und mehr als 200 Ordensleute. Es gibt etwa 90 Ordenskongregationen, darunter Männer und Frauen, 600 Ordensschwestern mit ewigen Gelübden und 300 mit zeitlichen Gelübden. Wir haben viele Priesteramtskandidaten, die im interdiözesanen Priesterseminar studieren und die Kongregationen haben viele Berufungen in ihren Ausbildungshäusern. Es gibt viele Berufungen, mit Gottes Segen. Es gibt ein Zeugnis des Lebens, von engagierten Christen, die sich für ihren Mitmenschen einsetzen, das junge Menschen anzieht und zu Jesus führt. Wir haben in Timor immer noch Missionare aus dem Ausland, die unter uns einen apostolischen Dienst verrichten.

Osttimor ist ein Land mit vielen jungen Menschen: Was können Sie über die Jugend von Osttimor sagen?

In Osttimor machen junge Menschen unter 30 Jahren laut offiziellen Statistiken 70 % der Bevölkerung aus. Heute stehen die jungen Menschen vor dem Problem des Studiums und der Arbeitslosigkeit: Es gibt einen Strom junger Menschen, die auswandern (nach Südkorea, Australien, Europa...). Junge Menschen träumen von einem besseren Leben. In Osttimor sind wir noch nicht in der Lage, für Arbeit und Entwicklung zu sorgen. Diejenigen, die auswandern, schicken ihre Überweisungen, um die wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Familien zu verbessern und die Wirtschaft des Landes zu unterstützen. Wenn ich an die jungen Menschen denke, so waren sie die Helden unserer Unabhängigkeit, bereit zu sterben, bereit, sich für ihr Land zu opfern. Jetzt, nach der Unabhängigkeit, sind sie Helden für ihre Familien, weil sie ihnen ein würdiges Leben ermöglichen. Und viele von ihnen sind sozusagen auch Missionare: Selbst in entchristlichten Kontexten halten junge Hochschulabsolventen oder Berufstätige ihren Glauben aufrecht und leben ihn. Das ist sehr ermutigend.

Wie gestaltet sich die Arbeit der kirchlichen Gemeinschaft im Bereich der Bildung?

Bildung ist ein Schlüsselbereich für künftige Generationen. Wir haben viele kirchliche Schulen und Institute aller Stufen und wir haben auch eine nach Papst Johannes Paul II. benannte Katholische Universität gegründet, die erste Universität in Osttimor. Die Ausbildung junger Menschen ist unsere Priorität.


Wie ist das Verhältnis zwischen der Kirche und den zivilen Institutionen?

Es ist ein sehr gutes Verhältnis, das in unserer Geschichte festgeschrieben ist. Und auch in der Verfassung. Und als wir 2015 das 500jährige Jubiläum der Mission feierten, haben wir auch ein Konkordat unterzeichnet, das vom Heiligen Stuhl gebilligt wurde und in dem die Beziehung zwischen Kirche und Staat definiert und geregelt ist. Einer der Artikel des Konkordats besagt zum Beispiel, dass die Regierung der Kirche jedes Jahr einen Zuschuss gewährt - über den die Regierung je nach Haushaltsmöglichkeiten entscheidet -, um das öffentliche Engagement in Schulen und sozialen Einrichtungen zu unterstützen.
Ein weiteres Zeichen für gute Beziehungen ist die Gewährung kostenloser Visa für katholische Missionare sowie für Priester und Ordensleute, die in das Land kommen, um einen pastoralen Dienst zu leisten. Darüber hinaus haben Diözesen, Pfarreien, Kongregationen und Ordensgemeinschaften eine eigene Rechtspersönlichkeit: Dies ist eine wichtige öffentliche Anerkennung für die Kirche, die es zum Beispiel erleichtert, eine Klinik, eine Schule oder eine andere Einrichtung zu gründen.


Wie sehen Sie die Zukunft der Kirche und des Landes?

Unsere Arbeit besteht in erster Linie darin, Menschen zu begleiten, damit sie im Glauben wachsen. Wir wollen eine offene Kirche sein, die in Einheit lebt und in der es keine feindlichen Gruppen gegeneinander gibt. Die gesamte Gemeinschaft möchte weiterhin zum Wohlstand und zur Stabilität des Landes beitragen. Mein Traum ist es, dass eines Tages junge Timoresen nicht gezwungen sind auszuwandern, sondern dass sie bleiben, weil sie hier ihr Leben in Fülle leben können und Christus, die Kirche und ihr Heimatland lieben.
(Fides, 09/09/2024)


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