ASIEN/INDONESIEN - Gemeinsam mit unseren muslimischen Brüdern und Schwestern warten wir auf Papst Franziskus: Interview mit dem Erzbischof von Jakarta Kardinal Ignatius Suharyo (Teil 2)

Freitag, 23 August 2024 ortskirchen   apostolische reise   papst franziskus   basisgemeinschaften   islam   geschwisterlichkeit  

Von Paolo Affatato

Jakarta (Fides) - Jedes Jahr, am islamischen Opferfest, schenkt die katholische Gemeinde in Jakarta der muslimischen Gemeinde eine Kuh. Und der Imam der großen Moschee teilt allen mit, dass es sich um ein Geschenk handelt, das „von unseren Brüdern und Schwestern kommt“. Dies ist eines der Details, die der indonesische Kardinal Ignatius Suharyo erzählt, um zu umschreiben, was er „die Seele Indonesiens“ nennt.
Im zweiten Teil des Interviews, das der Kardinal Fides gegeben hat, geht der Kardinalerzbischof von Jakarta von der Alltäglichkeit aus, die von den katholischen Gemeinden gelebt wird, die sich zur Zeit auf den Besuch von Papst Franziskus vorbereiten, und hält lange inne, um das geschwisterliche Zusammenleben zwischen Gläubigen verschiedener Religionen als „genetisches Merkmal“ des bevölkerungsreichsten Landes mit islamischer Mehrheit in der Welt zu beschreiben.

Wie gestaltet sich das Alltagsleben der christlichen Glaubensgemeinschaft im indonesischen Kontext?

Ich kann mit gutem Gewissen über die Pfarreien der Erzdiözese Jakarta sprechen, in denen eine breite Beteiligung der Gläubigen am pastoralen Leben, an den Liturgien und an der karitativen Arbeit zu verzeichnen ist. Die Kirchen sind immer voll, auch mit Kindern und Jugendlichen. Das bewährte und gut funktionierende Modell ist das der kleinen Gemeinschaften - nach dem Vorbild der kirchlichen Basisgemeinschaften -, die wir in der lokalen Sprache „lingkungan“ nennen, ein Begriff, der „Kreis“ bedeutet und erstmals 1934 von Albert Soejapranata verwendet wurde. Es handelt sich um kleine Gemeinschaften christlicher Familien, die sich in verschiedenen Vierteln in ihren Wohnungen treffen, um gemeinsam die Bibel zu lesen und zu beten. Es ist das Modell einer „diffusen“, nicht zentralisierten Pfarrei, die in den Randgebieten gut funktioniert. Nach dem Prinzip der Synodalität bringen die Vertreter dieser Basisgemeinschaften dann ihre Erfahrungen und Bedürfnisse in die gesamte Gemeinde ein, sie sind „Salz der Erde, Sauerteig für die Massen, Licht der Welt“. Es ist ein Modell des kirchlichen Lebens, das vor allem auf der Insel Java verbreitet ist, und es ist das Modell, das unsere Kirche nach hundert Jahren zu dem gemacht hat, was sie heute ist: Ziel ist es dabei, eine Gemeinschaft im Sinne von „Gaudium et Spes“ zu sein, das heißt, eine Gemeinschaft, die in die Welt eintaucht, eine Gemeinschaft, die die Freuden, Hoffnungen, Mühen und Leiden der Menschen teilt.

Auch das Motto, das für den Blick des Papstes gewählt wurde, scheint darauf anzuspielen: „Glaube, Geschwisterlichkeit, Barmherzigkeit“.

Das Geschenk des Glaubens erzeugt Geschwisterlichkeit und Mitgefühl. Und Mitgefühl scheint ein besonderes Merkmal des indonesischen Volkes zu sein. Ich habe einen internationalen Bericht über den World Giving Index gelesen, der von der Charities Aid Foundation veröffentlicht wurde: Darin heißt es, dass der Spendenindex der indonesischen Bevölkerung im Zeitraum 2018-2023 weltweit an erster Stelle von 146 Nationen steht. Dieser Index misst die Großzügigkeit und die freiwilligen Spenden in verschiedenen Notsituationen oder Bedürfnissen auf internationaler Ebene. Ich erinnere daran, dass zur Zeit der Pandemie viele der für die Bedürftigen in allen Bereichen benötigten Mittel aus privaten Spenden und damit aus der Barmherzigkeit und Spendenbereitschaft aller Bürger stammten.
Wir Christen sind in besonderer Weise von der Barmherzigkeit Gottes beseelt: Denken Sie an die Gleichnisse des Evangeliums vom barmherzigen Vater und dem barmherzigen Samariter. Die Barmherzigkeit ist für uns auch ein Weg der Mission: Das sehen wir an den etwa 4.000 Erwachsenentaufen, die wir jedes Jahr in Jakarta registrieren, die ein großes Geschenk Gottes sind. Es sind Menschen, die vielleicht an einem katholischen Begräbnis teilnehmen oder in anderen Situationen mit uns in Kontakt kommen, und sie sind berührt von dem Gebet und vor allem von der Art und Weise, wie wir der Familie des Verstorbenen helfen, sie sind berührt von dem Zeugnis der Gemeinschaft, von der gegenseitigen Hilfe und Liebe, die sie zwischen den Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft sehen. Durch dieses Zeugnis können neue Bekehrungen gedeihen.

Ist dieser Ansatz auch für das Verhältnis der Kirche zum Islam kennzeichnend?

Unsere Beziehungen zur islamischen Glaubensgemeinschaft sind wirklich gut. Und diese harmonische Beziehung besteht seit den Anfängen der Nation und hat sich bis heute erhalten. Das Symbol dieser Beziehung ist zum Beispiel in Jakarta der gleiche Standort der Kathedrale und der Istiq'lal-Moschee, die sich gegenüberstehen, um allen eine Botschaft des fruchtbaren Dialogs und der Harmonie zu vermitteln. Die Kathedrale wurde im frühen 20. Jahrhundert erbaut und die Moschee wurde absichtlich gegenüber errichtet. Sukarno, der Vater des Landes und erste Präsident, wollte die Moschee aus zwei Gründen an dieser Stelle errichten lassen: Zum einen stand auf dem Grundstück ein holländisches Festung, so dass die Erinnerung an den Kolonialismus verdrängt wurde, und zum anderen sollte die Präsenz von Kathedrale und Moschee auf dem großen Platz der Unabhängigkeit ein starkes Symbol für unsere religiöse Harmonie werden. Die jüngste Fertigstellung des „Tunnels der Geschwisterlichkeit“ - der von Präsident Joko Widodo gewünscht, restauriert und so benannt wurde - ist ein Symbol unserer Freundschaft, die immer deutlicher zum Ausdruck kommt. Als Erzbischof verbindet mich mit dem Imam der Moschee ein Band der Wertschätzung und Freundschaft.
Aber auch auf der Ebene der einfachen Leute sind die Beziehungen gut: Es herrscht eine Atmosphäre des Teilens und der Freundschaft, die sich an den jeweiligen religiösen Feiertagen manifestiert. Am islamischen Opferfest schenken wir als katholische Gemeinde der muslimischen Gemeinde jedes Jahr eine Kuh, und der Imam teilt den Gläubigen ausdrücklich mit, dass es unser Geschenk ist, „es kommt von unseren Brüdernund Schwestern“, wie er dankbar bemerkt. An unseren Weihnachts- und Osterfeiertagen kommen die muslimischen Gläubigen in die Kirche, grüßen die Menschen und wünschen ein frohes Fest: eine Praxis, die in vielen indonesischen Kirchen, nicht nur hier, üblich geworden ist. Das sind Gesten, die in den Medien verbreitet werden und von der Seele Indonesiens erzählen.

Und was passiert, wenn es doch einmal Probleme zwischen Muslimen und Christen gibt?

In der Regel setzen sich der Gouverneur, der Bürgermeister und die Zivilbehörden zusammen mit den religiösen Führern ein: Wir haben ein Forum für Kommunikation und interreligiösen Dialog, das Probleme des Zusammenlebens lösen soll. Generell ist der Staat - egal welche Regierung im Amt ist - sehr präsent und kümmert sich um die Aufrechterhaltung des sozialen und religiösen Friedens. Und dann ist festzustellen, dass radikale oder gewalttätige Gruppen sicherlich in der Minderzahl sind. Die beiden großen islamischen Verbände, Muhammadiyah und Nahdlatul Ulama (NU), in denen Millionen gläubiger Muslime zusammengeschlossen sind, stehen an vorderster Front, wenn es darum geht, das friedliche interreligiöse Zusammenleben zu fördern und zu erhalten und radikale Strömungen zu isolieren. Wir haben sehr enge Beziehungen zu ihnen. Diese beiden Verbände vermitteln den Gläubigen des muslimischen Glaubens Orientierung. Wenn es in den letzten Jahren - wiederum vom Ausland aus - Versuche gegeben hat, einen transnationalen Islam nach dem Vorbild des IS zu schaffen, war der indonesische Islam wachsam und bereit, sie zurückzuweisen. Ich möchte daran erinnern, dass der Islam nicht durch Waffen, sondern durch den Handel nach Indonesien kam und ein spezifisches Gesicht hat, das wir 'Islam Nusantara' nennen, d. h. den Islam des Archipels. Es ist ein „sehr indonesischer“ Islam, würde ich sagen. Das heißt, er ist zutiefst tolerant und einladend, er weiß, wie man Geschwisterlichkeit aufbaut und führt einen 'Dialog des Alltags'. Durch diese Art des Dialogs arbeiten wir gemeinsam für das Wohl der Menschen, für Bildung, für Gesundheitsfürsorge, für Menschlichkeit.
Alle führenden Religionsvertreter sind sich ihrer Verantwortung für die Aufrechterhaltung eines harmonischen gesellschaftlichen Lebens durchaus bewusst. Und wenn es vereinzelte Fälle von Konflikten gibt, so sind diese im Vergleich zum riesigen Territorium Indonesiens mit seinen 17.000 Inseln und der Bevölkerungsmasse von 275 Millionen Menschen gering und unbedeutend. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass Konflikte, wenn sie denn auftreten, oft nicht wirklich religiös motiviert sind, sondern ausbrechen, wenn die Religion für politische Zwecke manipuliert wird. Der instrumentelle Einsatz von Religion in der Politik, zu politischen Zwecken, kann solche Fälle von Konflikten erklären.

Wie bereiten Sie sich auf den Besuch von Papst Franziskus vor?

Es werden nur drei Tage sein, eine kurze, aber mit Sicherheit sehr bedeutsame Zeit. Zunächst möchte ich an die historische Kontinuität erinnern: Der Besuch des Papstes ist kein Novum in der Geschichte der Beziehungen zwischen Indonesien und dem Heiligen Stuhl. In der Vergangenheit besuchten bereits Papst Paul VI. 1970 und Papst Johannes Paul II. 1989 Indonesien. Heute ist der Besuch von Franziskus ein Zeichen für den wachsenden gegenseitigen Respekt, der seit der Unabhängigkeit Indonesiens entstanden ist.
Zweitens ist er ein Zeichen der Wertschätzung des Papstes für das indonesische Volk, insbesondere im Hinblick auf die Religionsfreiheit und das interreligiöse Zusammenleben und die Harmonie zwischen den Glaubensgemeinschaften.
Der Besuch ist ein wichtiges Zeichen und ein Geschenk für uns alle, sage ich oft, aber für uns Christen hier ist es über den feierlichen Moment hinaus ebenso wichtig, die Lehren des Papstes zu vertiefen und zu verwirklichen, indem wir zum Beispiel jeden Tag versuchen, die Erklärung von Abu Dhabi über die menschliche Brüderlichkeit und die Enzykliken „Fratelli Tutti“ und „Laudato si' “ über die Pflege des gemeinsamen Hauses zu praktizieren und im Alltag zu leben.
Denjenigen, vor allem im Westen, die mich erstaunt oder zweifelnd fragen, wie man in Indonesien, einem Land mit einer islamischen Mehrheit, in Harmonie und Freiheit leben kann, sage ich oft: Kommt und seht. Der Besuch des Papstes wird auch ein Moment sein, in dem die ganze Welt - über die Medien und mit internationaler Resonanz - „kommen und sehen“ kann.

Welche Erwartungen haben die Katholiken und alle Indonesier im Hinblick auf den Papstbesuch?

Die Erwartung ist groß, das sieht man schon an den Gläubigen, die jeden Sonntag in die Pfarreien kommen, die ich besuche. Die Veranstaltungen mit dem Papst werden sehr voll sein, die Menschen werden aus allen Diözesen nach Jakarta kommen, im “Gelora Bung Karno”-Stadion werden für die Messe 80.000 Menschen erwartet. Es gibt einen Veranstaltungsauschuss, in dem katholische Kirche und die Regierung zusammenarbeiten. Die Begeisterung groß, und die geistliche Vorbereitung in den verschiedenen Gemeinschaften steht unter dem Motto „Glaube, Geschwisterlichkeit und Barmherzigkeit“. Ein Komponist hat aus diesem Motto ein liturgisches Lied komponiert, das in allen Pfarreien gesungen wird.
Wir fühlen uns Papst Franziskus und seinem Stil sehr nahe, und die Worte seines Lehramtes werden in Indonesien oft zitiert, sogar von Regierungsvertretern oder muslimischen Religionsvertretern. Es genügt zu sagen, dass die erste Person, die den Besuch des Papstes in Indonesien öffentlich bestätigte - vor der Regierung und vor der Bischofskonferenz - der Imam der Istiq'lal-Moschee war, die der Papst besuchen wird: Er konnte seine Freude nicht zurückhalten.

Wie sehen Sie die Zukunft der Kirche in Indonesien?

Damit das Evangelium in den verschiedenen Kulturen Indonesiens auch in Zukunft weiterhin gedeihen und auch künftig Frucht bringen kann, glaube ich, dass dies vor allem durch unser Zeugnis im Bereich der Bildung, der Gesundheitsfürsorge, durch soziale Werke und Nächstenliebe geschehen kann: aber sicher nicht durch eine Strategie, sondern nur durch unsere Liebe zu den Menschen! Brüder und Schwestern zu sein, ist das Beste, was wir in der Bildung, in der Gesundheitsfürsorge, in den Solidaritätsaktionen anbieten können. Das ist der Glaube an die Vorsehung: Lasst uns unseren Teil tun, lasst uns unsere fünf Brote und zwei Fische einbringen, um Zeugnis von der Liebe Christi zu den Menschen zu geben: Der Herr wird den Rest tun.
(Fides 23/8/2024)


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