Zehn Jahre Evangeli Gaudium (Teil 4) - Die Mission, der “sensus fidei” des Gottesvolkes und die Volksfrömmigkeit

Freitag, 24 November 2023 mission   evangelisierung   papst franziskus   spiritualität   volksfrömmigkeit  

Von Gianni Valente

Rom (Fides) - Nachdem der auferstandene Jesus in den Himmel aufgenommen wurde - so heißt es im Markusevangelium - zogen seine Jünger aus „und verkündeten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die Zeichen, die es begleiteten“. Das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“, das Papst Franziskus am 24. November 2013, also vor genau zehn Jahren, veröffentlichte, bekräftigt, dass auch heute der Glaube, die Nächstenliebe und die Mission der Christen nur durch das Wirken Jesu und seines Geistes in der Gegenwart bewegt werden können.
Es gibt auch in der heutigen Welt – so „Evangelii gaudium“ - eine Realität, die eine Art Wahlverwandtschaft hat, die ihr bei der Anerkennung der Taten und Werke des Herrn in der Gegenwart zugutekommt. Es gibt ein von Jesus gesammeltes und geliebtes Gottesvolk, das seinerseits weiterhin um seine Gegenwart und seinen Trost in den Bedrängnissen des Lebens bittet. Das seine Erwartungen den Worten einfacher Gebete anvertraut.
Der Geist – schreibt Papst Franziskus in dem Apostolischen Schreiben – „leitet das Volk Gottes in der Wahrheit und führt es zum Heil“. Das Wirken des Geistes, so der Bischof von Rom weiter, „begabt die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem „sensus fidei“ –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt“. „In allen Getauften“, so der Papst, „wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es „in credendo“ unfehlbar macht. Das bedeutet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken“ (§119).
Die Vorliebe für das Volk Gottes ist Teil des Geheimnisses der Liebe Gottes zur Menschheit. „Gott begabt die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt”. Die Gegenwart des Geistes, so der Papst „gewährt den Christen eine gewisse Wesensgleichheit mit den göttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohl sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie genau auszudrücken“ (§ 119).
Der „sensus fidei“ des Gottesvolkes, eine Gabe des Geistes und ein Zeichen seiner Vorliebe zeigt sich - wie „Evangelii gaudium“ bekräftigt -, mit einzigartiger Kraft in dem, was Evangelii gaudium als "Spiritualität des Volkes" oder "Volksfrömmigkeit" bezeichnet. Die freie und dankbare Bewegung des Gottesvolkes zu den Heiligtümern, um sich Jesus, Maria und den Heiligen anzuvertrauen, ohne pastorale Pläne befolgen zu müssen. Von diesen Gesten und Praktiken kann man sagen: »Das Volk evangelisiert fortwährend sich selbst“ und die Volksfrömmigkeit ist „ein authentischer Ausdruck des spontanen missionarischen Handelns des Gottesvolkes“ (§ 122).
Das Apostolische Schreiben zitiert das "Dokument von Aparecida" (Ergebnis der 5. CELAM-Versammlung im Juli 2007), das die Reichtümer beschreibt, „die der Heilige Geist in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichen Initiative entfaltet“ (§ 124). Die Volksfrömmigkeit, die »in der Kultur der Einfachen verkörperte Spiritualität« - so Papst Franziskus im Apostlischen Schreiben „Evangelii gaudium“ – „bringt die Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Das gemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten und die Teilnahme an anderen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, wobei man auch die Kinder mitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt, ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung“ (§124).
Papst Franziskus lädt dazu ein, „das gottgefällige Leben würdigen, das in der Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders bei den Armen, vorhanden ist“. „Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus“. „Evangelii gaudium“ fordert auch dazu auf, diese Gesten nicht als Ausdrucksform der natürlichen Suche nach dem Göttlichen zu betrachten, denn „wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist“ (§ 125). Da „die Volksfrömmigkeit Frucht des inkulturierten Evangeliums ist, ist in ihr eine aktiv evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen“ (§ 126).
Im Vorwort zu Enrique Ciro Bianchis Buch über die Theologie des Volkes bekräftigt Papst Franziskus, dass "die Volksspiritualität nicht das Aschenputtel des Hauses ist. Es sind nicht die, die nicht verstehen, die nicht wissen. Es tut mir leid, wenn jemand sagt: 'Die müssen wir erziehen'. Wir werden immer vom Gespenst der Aufklärung heimgesucht, diesem ideologisch-nominalistischen Reduzieren, das uns dazu bringt, die konkrete Wirklichkeit zu ignorieren. Und Gott wollte durch konkrete Wirklichkeiten zu uns sprechen. Die erste Häresie der Kirche ist der Gnostizismus, den schon der Apostel Johannes kritisiert und verurteilt hat. Auch heute kann es gnostische Positionen vor dieser Tatsache der Spiritualität oder Volksfrömmigkeit geben".
In der Spiritualität des Volkes, so „Evangelii gaudium“, manifestiert sich die Liebe zu Jesus, Maria und den Heiligen als Dankbarkeit für die Erfahrung und Anerkennung der Tatsache, geliebt zu werden. Der verstorbene argentinische Priester Rafael Tello, zusammen mit Pater Lucio Gera der Vater der "Theologie des Volkes", forderte dazu auf, uns von der "beklagenswerten Verwirrung" zu distanzieren, die in der pastoralen Praxis der letzten Jahrzehnte vorherrschte: das von vielen geteilte - und oft von guten Absichten genährte - Missverständnis, dass die Spendung der Sakramente mit einem gewissen Grad an "spirituellem Bewusstsein" der christlichen Lehre zusammenfällt, das durch Vorbereitungskurse nach dem Vorbild der Berufsausbildungskurse erworben werden muss. 
Wenn viele die Sakramente immer noch als unentgeltliche Gesten des Herrn anerkennen, so ist dies nicht so sehr den Strategien des Klerus zu verdanken, sondern vielmehr dem „sensus fidei“, den die Spiritualität des Volkes in den Gläubigen bewahrt. „Dieser Brauch von Gesten und Praktiken", schrieb Pater Tello damals, "mit denen sich das Volk selbst evangelisiert, 'besser als es selbst die Priester gewöhnlich tun', und von denen die Sorge um die Taufe ihrer Kinder 'die wichtigste Manifestation' ist“. "Durch diese Wege", erklärte Pater Tello in seinen leidenschaftlichen Predigten und Vorträgen, "führt der von unserem Volk am meisten benutzte Weg, den wir sakramental nennen: eine sensible Tatsache (der Taufritus), die als Zeichen dafür wahrgenommen wird, dass Gott sie zu sich nimmt. Für unser Volk sieht das so aus. Er nimmt das Kind, das getauft werden soll, und kleidet es mit Christus ein. Das ist der Katholizismus im tiefsten Sinne des Wortes: Ich bringe das Kind zu ihm; es mag wie ein Unglücklicher leben, aber es ist bereits mit Christus bekleidet".
(Fides 24/11/2023)


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