ASIEN/SYRIEN - Bischof Joseph Tobji von Aleppo: “Mit dem Erdbeben beginnt eine neue Zeit der Prüfung”

Donnerstag, 16 Februar 2023 mittlerer osten   ostkirchen   naturkatastrophen   krisengebiete   glaube  

Vatican Media

Aleppo (Fides) - "Nach dem Schock und dem ersten Schrecken beginnen wir nun, das ganze Ausmaß der materiellen und geistigen Zerstörung zu begreifen, die das Erdbeben in unserem Leben hinterlassen hat. Es beginnt eine schwere Zeit, in der wir aufgerufen sind, auch in dieser Situation zu bekennen und zu bezeugen, dass unser Vater im Himmel uns liebt und unser Heil will", so der maronitische Bischof Joseph Tobji von Aleppo zehn Tage nach dem Erdbeben, das Tod und Zerstörung in einer weiten Region zwischen Syrien und der Türkei gebracht hat gegenüber Fides. Er spricht über die großen Schatten und die wenigen Lichtern, die die Gegenwart und die Zukunft seines Volkes kennzeichnen. Angesichts der neuen Tragödie, die auch die Einwohner von Aleppo heimgesucht hat, stellt sich der Bischof den vielen Fragen, die auch den eigenen Glauben in Frage stellen. Und er äußert sich skeptisch zu Gerüchten über eine angekündigte "Lockerung" der westlichen Wirtschaftssanktionen, die das Leben von Millionen von Syrern seit mehr als einem Jahrzehnt belasten. "Zu diesem Thema scheinen eine Menge Lügen und Gerüchte zu kursieren", sagt er.
Während die tragische Zahl der Erdbebenopfer weiter steigt, ist die größte Notlage für die Menschen, die in den Ruinen von Aleppo leben, die Unterbringung. Die Bevölkerung sucht in Notunterkünften, darunter auch die weniger beschädigten Kirchen, Zuflucht. Dort werden Lebensmittel, Decken und Medikamenten verteilt. "Aber man kann nicht lange so leben, und jetzt wird den Menschen gesagt, sie sollen versuchen, in ihre Häuser zurückzukehren, wenn sie nur wenig beschädigt sind", berichtet der Bischof. In vielen Stadtvierteln Aleppos, in denen ohne Baugenehmigung gebaut wurde, hat das Erdbeben ganze Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. „In den Vierteln, in denen sich die christliche Bevölkerung konzentriert", berichtet Bischof Tobji, "wurden vor allem alte Gebäude beschädigt, die mit Steinen und ohne Stahlbeton gebaut wurden. 105 Hilfsteams mit Ingenieuren und Arbeitern der Bauaufsichtsbehörde überwachen die Schäden und die Dichtigkeit der Gebäude in den einzelnen Vierteln, lassen Menschen aus einsturzgefährdeten Wohnblöcken evakuieren und erstellen eine erste Schätzung des Schadensausmaßes der einzelnen Häuser. In den nächsten Monaten soll mit der Wiederherstellung und Sicherung der Häuser begonnen werden, damit sie wieder bewohnbar gemacht werden können“.
„Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in Aleppo", berichtet Bischof Tobji, "haben außerdem eine gemeinsame Kommission mit 15 Ingenieuren eingesetzt, die den Zustand der Gotteshäuser und der von christlichen Familien bewohnten Gebäude überprüfen soll“. "Die Wiederaufbauarbeiten müssen so schnell wie möglich beginnen, denn die Menschen können nicht außerhalb ihrer Häuser leben", betont er in diesem Zusammenhang.
Bischof Tobji bekräftigt, dass Diözesen, Ordensgemeinschaften, einzelne Pfarreien und kirchliche Einrichtungen aus aller Welt sofort ihre Verbundenheit und konkrete Nähe zu den vom Erdbeben betroffenen Menschen gezeigt haben und nach Möglichkeiten suchen, materielle Hilfe nach Syrien und auch nach Aleppo zu bringen. Weitere Hilfe komme aus den Ländern der Region (Irak, Iran, Arabische Emirate).
Joseph Tobji erinnert daran, dass mit dem Erdbeben für viele Christen auch eine neue Zeit der Prüfung beginnt. "Für diejenigen, die nicht die Gabe des festen Glaubens haben", räumt der Bischof verständnisvoll ein, "kann das, was geschehen ist, auch den Groll über ihr Schicksal verstärken. Es gibt Menschen, die immer wieder fragen: Was ist das nächste Übel, das über unser Leben hereinbrechen wird? Wir hatten den Krieg, das Embargo, die Pandemie, jetzt das Erdbeben... Warum passiert uns das alles? Was haben wir falsch gemacht?". Andere wiederum finden Trost in den Geschichten von so vielen Gefahren, denen sie auf mysteriöse Weise entkommen sind, Geschichten, die von Mund zu Mund gehen, um sich gegenseitig zu trösten. Wie die Geschichte der Familie, die während der schwersten Beben nicht aus dem Haus und zu ihrem Auto gelangen konnte, um zu fliehen, weil der Schlüssel im Türschloss abgebrochen war. "Das Haus", sagt Bischof Tobji, "hat dem Erdbeben standgehalten. Sie brachen die Tür auf, gingen nach draußen und fanden ihr Auto, das von einem eingestürzten Balkon zerquetscht wurde. Jetzt erzählen sie allen ihre Geschichte und danken dem Herrn für die Tür, die sich nicht öffnen ließ und sie vor dem sicheren Tod bewahrte". Angesichts der neuen Tragödie, die über die Menschen hereinbricht, fügt der Bischof hinzu, "sind wir aufgerufen, zu wiederholen, dass das Böse nicht absolut ist und Gott unser Wohl will. Wir rufen jede Familie, jeden Menschen auf, auch zu fragen, was er braucht. Die Hilfe, die uns erreicht, auch von entfernten Freunden, sind ein Zeichen des Lichts und der Hoffnung. Während der Fastenzeit werden wir in Häusern und Gebäuden zur Bibellektüre einladen und Familien bitten, sich zu versammeln, um mit Hilfe eines Priesters und eines Katecheten Trost im Wort Gottes zu finden".
Die Gerüchte über die Lockerung der Sanktionen gegen Syrien hält der maronitische Bischöf für eine Art Täuschung, die über die Medien transportiert werden soll. "Seit Jahren", so Bischof Tobji gegenüber Fides, "erzählt man uns, dass die Sanktionen nur bestimmte Menschen und bestimmte begrenzte Gruppen betreffen, und stattdessen sehen wir, dass es die Armen sind, die leiden. Jeder kann mit eigenen Augen sehen, was die Sanktionen gegen Syrien bedeuten und wie sie wirken. Wenn ich jemanden bitte, mir eine Spende von 10 Euro auf das Konto der Diözese zu schicken, um die karitative Arbeit zu unterstützen, ist sofort klar, dass die Operation unmöglich ist, weil Syrien ganz einfach von den internationalen Systemen abgeschnitten ist, die von Bankinstituten und Geldtransferunternehmen online genutzt werden. Wenn man mit digitalen Anwendungen nach Syrien sucht, um diese einfachen Transaktionen durchzuführen, stellt man fest, dass Syrien in diesen Anwendungen einfach nicht existiert".
(GV) (Fides 16/2/2023)


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