NAHER OSTEN - Nach dem Erdbeben nimmt die Arabische Liga Syrien wieder auf: Das Ende der Isolation aus Sicht des Heiligen Stuhls

Mittwoch, 14 Juni 2023

sana.sy

von Victor Gaetan*

Gute Nachrichten sind in Syrien seit 2011 eine Seltenheit.
Das von mehr als einem Jahrzehnt Krieg verwüstete Land, das sich Armut und einer Pandemie konfrontiert sah, wurde am 6. Februar erneut von einem Erdbeben in der Nähe der nordwestlichen Grenze des Landes zur Türkei heimgesucht, das etwa sechs Menschen tötete und mehr als 330.000 Menschen vertrieb. Auch Aleppo, die größte Stadt der Region, die lange Zeit ein wichtiges Zentrum des Christentums in diesen Gebieten war, wurde erneut getroffen.
Die plötzliche, x-te Katastrophe hat Syrien erneut in den Mittelpunkt der Besorgnis gerückt, insbesondere bei seinen Nachbarn, darunter Saudi-Arabien, das zuvor beschuldigt worden war, den Aufstand gegen Präsident Bashar al Assad durch Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen mit angeheizt zu haben.
Als unmittelbare Folge der humanitären Krise hat die Arabische Liga mit ihren 22 Mitgliedern die regionale Isolierung Syriens beendet: Assad wurde auf der Tagung der Liga in Dschidda (Saudi-Arabien) im vergangenen Monat persönlich begrüßt und konnte sich erneut offiziell an die Mitglieder der Organisation wenden, die ihn vor 12 Jahren ausgeschlossen hatte.
Dies ist eine überraschende und positive Entwicklung, die auch vom Heiligen Stuhl begrüßt wird, der auch die westlichen Länder auffordert, einen Schritt nach vorne zu machen und die Sanktionen zu beenden, die die syrische Wirtschaft lähmen.

Wenn die Diplomatie siegt
Das Auftreten des Erdbebens führte zu einer sofortigen Reaktionen der führenden Vertreter verschiederner arabischer Länder: Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al Sisi rief Assad am nächsten Tag an. Eine Woche später flog der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus und nahm damit den ersten direkten diplomatischen Kontakt auf dieser Ebene seit Beginn des Syrienkonflikts im Jahr 2011 auf.
Innerhalb weniger Wochen landete eine Delegation arabischer Parlamentarier, darunter der Präsident des irakischen Parlaments, Muhammad al-Halbousi, Präsident der Arabischen Interparlamentarischen Union, in der syrischen Hauptstadt: "Wir können nicht auf Syrien verzichten, und Syrien kann nicht auf sein arabisches Umfeld verzichten, zu dem es hoffentlich zurückkehren kann", so Halbousi gegenüber „The Arab Weekly“.
Ende März wurden in Amman (Jordanien) mögliche politische Optionen für Syrien von einem breiteren Spektrum interessierter nationaler und internationaler Einrichtungen erörtert, darunter Vertreter der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der Türkei, Frankreichs, Deutschlands und sogar der Vereinigten Staaten. Die Mitglieder der Arabischen Liga bestanden jedoch darauf, dass die Leitlinien und Entscheidungen zu Syrien auf regionaler Ebene getroffen werden sollten: "Die arabischen Staaten müssen die Initiative ergreifen und Gespräche zur Lösung der Syrien-Krise aufnehmen", betonte Safadi.
Im Mittelpunkt der "Jordanischen Initiative", einem Plan zur Wiedereingliederung Syriens in die regionalen politischen Strukturen, steht das Prinzip der Gegenseitigkeit. Als Gegenleistung für Normalisierung und humanitäre Hilfe erklärt sich die Assad-Regierung bereit, die Wiedereingliederung von Flüchtlingen zu beschleunigen (mehr als 663.000 syrische Flüchtlinge befinden sich in Jordanien, 865.000 im Libanon und sogar 3,6 Millionen in der Türkei), den Drogen- und Waffenschmuggel zu kontrollieren und eine Sicherheitsreform einzuleiten, um irreguläre Milizen aufzulösen.
Die abschließenden Verhandlungen waren offensichtlich bereits im Gange, als der syrische Außenminister am 12. April nach Dschidda flog, um den saudi-arabischen Außenminister zu treffen, der am 18. April nach Damaskus reiste. Auch dies waren die ersten diplomatischen Gespräche, die seit dem Ausbruch des Krieges 2011 in Saudi-Arabien mit Syrien geführt wurden.
Am 7. Mai stimmte eine Versammlung der Außenminister der Arabischen Liga in Kairo dafür, die Assad-Regierung förmlich einzuladen, dem regionalen Forum wieder beizutreten, das 1945 von sechs arabischen Ländern, darunter Syrien, gegründet wurde.

Der Heilige Stuhl fordert seit Jahren die Beendigung der Isolierung
Seit Jahren fordern der Heilige Stuhl und die Kirchen im Nahen Osten ein Ende der Isolierung Syriens und handeln entsprechend.
Letztes Jahr bezeichnete der apostolischer Nuntius in Syrien, Kardinal Mario Zenari, den Konflikt als die "schwerste von Menschen verursachte humanitäre Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs" und beklagte die mangelnde Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für die Förderung von Frieden und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes. Er äußerte sich auf einer Konferenz der damaligen Kongregation (jetzt Dikasterium) für die orientalischen Kirchen in Damaskus, an der katholische humanitäre Organisationen und Vertreter der Ortskirchen in der syrischen Hauptstadt teilnahmen. Zum Abschluss der Konferenz trafen die Leiter der katholischen Hilfsorganisationen mit Präsident Assad zusammen, der ihre Arbeit lobte, zumal sie allen Syrern, unabhängig vom Glauben, angeboten wird. Das Treffen entsprach den vom Heiligen Stuhl traditionell verfolgten und unterstützten Kriterien, die den Dialog immer und überall als wesentlich erachten.
Einen Monat vor dem Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus, im Februar 2013, war der libanesische Kardinal Bechara Boutros Raï der erste maronitische Patriarch seit siebzig Jahren, der Damaskus besuchte. Der maronitische Patriarch nahm an der Amtseinführung des neuen Patriarchen der griechisch-orthodoxen Kirche von Antiochien, Johannes X., teil. Die Feierlichkeiten wurden zu einer Demonstration der Einheit zwischen orthodoxen und katholischen christlichen Führern angesichts des Extremismus, der das Land zerriss.
Papst Franziskus hat sich in den acht Monaten seit seiner Wahl mit allen Patriarchen der Kirchen des östlichen Ritus getroffen und ihnen seine Fürsorge und Unterstützung gezeigt. Der Papst vertraute auch auf ihre Wahrnehmung der syrischen Realität und Situation und schloss sich nicht den westlichen Strategien an, die eine Politik des "Regimewechsels" verfolgen.

„Diplomatie der Begegnung“ im Nahen Osten
Der von den Mitgliedern der Arabischen Liga verfolgte Prozess zur Wiedereingliederung Syriens nach der Naturkatastrophe spiegelt die Grundsätze der vatikanischen Diplomatie wider.
Erstens wurden umfangreiche persönliche Gespräche geführt. Und für Franziskus ermöglicht die persönliche Begegnung einen Wandel der Herzen und neue Sympathien zwischen den verschiedenen Standpunkten. Dies ist der heikle und kritische Schritt: Die Kultur der Begegnung sollte als Beschreibung realer Begegnungen zwischen realen Menschen verstanden werden. Es handelt sich um ein Aktionsprogramm, nicht um eine Theorie.
Zweitens: Der Prozess wurde Schritt für Schritt aufgebaut. Die Länder haben zusammen gearbeitet, um konkrete Ergebnisse zu erzielen, was das Vertrauen stärkt. Einer der wichtigsten Schritte, der die Versöhnung der Arabischen Liga mit Syrien ermöglichte, war der diplomatische Durchbruch am 10. März: Saudi-Arabien, das mehrheitlich sunnitisch ist, und der Iran, der mehrheitlich schiitisch ist, kündigten an, dass sie ihre Beziehungen wiederherstellen und ein Sicherheitsabkommen neu auflegen würden. Die Rivalität zwischen den beiden mächtigen Ländern hat bisher den regionalen Konflikt in Syrien, Libanon und Jemen angeheizt.
Drittens ist die Normalisierung der arabischen Beziehungen zu Syrien ein Beispiel für Subsidiarität, d. h. sie spiegelt die Idee wider, dass politische Probleme, wann immer möglich, auf lokaler und regionaler Ebene, auf der untersten Ebene der Entscheidungsfindung, unter Beteiligung zahlreicher Akteure gelöst werden sollten. "Das Subsidiaritätsprinzip erlaubt es jedem, seine Rolle in der Sorge um die Gesellschaft und ihr Schicksal zu übernehmen", sagte Papst Franziskus bei einer Generalaudienz. .
Schließlich warteten die Protagonisten nicht auf die Zustimmung der westlichen Mächte, die sich der Umarmung mit Syrien bisher widersetzt haben. Obwohl Saudi-Arabien ein Verbündeter der Vereinigten Staaten ist, hat es sich beispielsweise den jüngsten Bemühungen der USA um eine Normalisierung in Syrien widersetzt. Was die vatikanische Praxis widerspiegelt, ist der Gedanke, dass sich die Länder um Frieden bemühen sollten, ohne im Voraus zu wissen, was die genauen Ergebnisse sein werden; das Wichtigste ist, einen Prozess hin zu besseren internationalen Beziehungen einzuleiten.

Werden die Sanktionen beendet?
Die Arabische Liga ist in erster Linie ein lose geeintes politisches Bündnis. Sie ist nicht in der Lage, die zahlreichen Notsituationen in Syrien rasch zu beheben: Die Bevölkerung leidet unter massiver Nahrungsmittel- und Gesundheitsproblematik, und erstaunliche 90 Prozent der Bevölkerung leben in Armut.
Nach Ansicht vieler Experten ist Syrien zu großem Leid verdammt, das fast alle Syrer betrifft, solange der Westen die Sanktionen gegen das Land aufrechterhält. Die Sanktionen beeinträchtigen auch den wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Vertreter des Heiligen Stuhls, Oberhäupter lokaler christlicher Gemeinschaften (darunter der griechisch-katholische melkitische Patriarch Youssef I.) und hochrangige Vertreter der Vereinten Nationen haben die Strafsanktionen gegen Syrien wiederholt beklagt, weil sie vorwiegend die verarmte Bevölkerung bestrafen und die Hilfsbemühungen erschweren.
Der Rat der Kirchen für den Nahen Osten, dem die wichtigsten katholischen Gemeinschaften im Nahen Osten angehören, hat schließlich eine eindringliche Warnung ausgesprochen: "Wir fordern die sofortige Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien und den Zugang zu allen notwendigen Gütern, damit die Sanktionen nicht zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden".
*Victor Gaetan ist leitender Korrespondent des „National Catholic Register“ und berichtet über internationale Angelegenheiten. Er schreibt auch für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ und hat Beiträge für den „Catholic News Service“ verfasst. Die „Catholic Press Association of North America“ hat seine Artikel mit vier Preisen ausgezeichnet, darunter einem für herausragende Einzelleistungen. Gaetan hat einen B.A. in osmanischen und byzantinischen Studien von der „Sorbonne“ in Paris, einen M.A. von der „Fletcher School of International Law and Diplomacy“ und einen Ph.D. in Ideologie in der Literatur von der „Tufts University“. Er ist der Autor des Buches „God's Diplomats: Pope Francis, Vatican Diplomacy, and America's Armageddon (Rowman & Littlefield, 2021). Weitere Informationen auf der Website des Autors VictorGaetan.org


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