AFRIKA/NIGERIA - Die Ursprünge der Boko-Haram-Sekte

Donnerstag, 29 Dezember 2011

Abuja (Fidesdienst) – Die Boko-Haram-Sekte, die für zahlreiche Attentate verantwortlich ist, die in jüngster Zeit in Nigeria Tote und Verletzte forderten, hat ihren Ursprung in der Geschichte der Kolonialzeit und der nachkolonialen Zeit des afrikanischen Landes.
Übersetzt bedeutet „Boko-Haram“ so viel wie „Verbot der westlichen Erziehung“. Doch in der muslimischen Gemeinde gibt es widersprüchliche Auslegungen des Begriffs „Boko“. Oft wird „Boko“ zusammen mit einem anderen Substantiv „Ilimin“ benutzt, das Erziehung bedeutet. Dabei gilt der Ausdruck „Ilimin Boko“ als abwertende Bezeichnung für die westliche Erziehung, um sie von der einzig möglichen Form der Erziehung in einer muslimischen Gesellschaft, der „Ilimin Islamiyya“ zu unterscheiden. Ilimin Islamiyya ist eine Art Katechese, in deren Mittelpunkt die Lehrsätze des Koran stehen, die auswendig gelernt werden müssen, wodurch Kinder an den islamischen Glauben herangeführt werden sollen. Der Unterricht findet in arabischer Sprache statt.
Zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft wurde ein westliches Erziehungssystem eingeführt, womit die Gegenüberstellung der Ilimin Islamiyya und der Ilimin Boko begann. Letztere wurde as minderwertig und suspekt betrachtet, weil sie weder den Koran noch den Islam lehrte. Unterrichtssprache war zudem Englisch. Die islamische Elite verband die Weißen und deren unverständliche Lehren oft mit Hexerei, der so genannten Boka.
Als Missionare und Kolonialherren im Norden Nigerias Erziehungsprogramme auf den Weg brachten, war die muslimische Führungsschicht zunächst misstrauisch. Man beschloss die Kinder der Sklaven und der unteren Gesellschaftsschichten versuchsweise in die „Schulen der Weißen“ zu schicken. Es dauerte lange, bis die Führungsschicht die Werte dieser Erziehung als Instrument der Modernisierung anerkannte und ihre eigenen Kinder in diese Schulen schickten. Doch die Kinder der ersten Generation der muslimischen Elite, die westliche Schulen besuchten, wurden von ihren Freunden oft verspottet.
Dieses Vorurteil existiert heute noch und aus diesem Grund wird die westliche Erziehung als „verboten“ (Haram) betrachtet. Das Misstrauen gegenüber der westlichen Erziehung kommt dadurch zum Ausdruck, dass in allen Staaten des Nordens, wenige Kinder einen Schulabschluss besitzen. Noch heute lehnen rund 80% der muslimischen Eltern in den ländlichen Gebieten aber auch in den Städte des Nordens die westliche Erziehung ab und schicken ihre Kinder nicht in westliche Schulen. Die Situation der Mädchen ist noch schlimmer, denn nur weniger als 10% der Mädchen besuchen eine Schule. Viele muslimische Kinder, die heute auf den Straßen Nigerias zu finden sind, wurden an islamischen Schulen von einem wandernden Lehrer, dem so genannte Mallam, unterrichtet.
Diese Jungendlichen, die oft arbeitslos sind, sind der Lebensquell von Sekten, wie Boko-Haram und anderen ähnlichen Bewegungen, die im Norden Nigerias immer wieder neu entstehen. Durchschnittliche Muslime fühlen sich heute von der Welle der Veränderungen in der Gesellschaft überwältigt. Da ihnen oft der Zugang zu Mitteln der Modernisierung fehlt, sind sie meist von den Kreisen der Macht ausgeschlossen. In den Städten befinden sich die meisten geschäftlichen Aktivitäten in Händen von Personen, die sie als fremd betrachten: fast alle Geschäftsleute kommen aus dem Süden und sind Christen. Diese haben Gewohnheiten und Bräuche eingeführt, darunter der Alkoholkonsum, christliche Feste und einen anderen Lebensstil, die bei vielen Muslimen auf Misstrauen stoßen, da sie um die Zukunft ihrer Familien und ihres Glaubens fürchten. Die Verantwortlichen der Boko-Haram-Sekte nutzen diese Situation aus und vertreten dabei die Ansicht, dass man sich vor fremder „Verschmutzung“ schützen muss und zu einer rein islamischen Gesellschaft zurückkehren sollte, auch um damit die Mängel des nigerianischen Staates auszugleichen. (LM) (Fidesdienst, 29/12/2011)


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