ASIEN/INDONESIEN - Das Dokument von Abu Dhabi: Wegweiser für den indonesischen Islam

Donnerstag, 29 August 2024

Von Paolo Affatato


Jakarta (Fides) - „Die Versuche, in Indonesien eine Theokratie einzuführen, sind gescheitert. Dies geschah bei mindestens zwei Gelegenheiten, Mitte des 20. Jahrhunderts und dann in den 1990er Jahren. Diese Versuche wurde von den indonesischen Muslimen damals nicht unterstützt und würde dies auch heute nicht“, sagt der auch als „Gus Ulil“ bekannte muslimischer Gelehrte und Geistliche Ulil Abshar-Abdalla im Interview mit Fides. Er ist Mitglied der islamischen Vereinigung „Nahdlatul Ulama“ (NU), in der er Präsident des Institut für Studien und Entwicklung von Humanressourcen „Lakpesdam“ ist. Ulil ist auch Mitglied der Indonesischen Konferenz für Religion und Frieden (ICRP).
Der Wissenschaftler erläutert den indonesischen Islam im Vorfeld des Besuch von Papst Franziskus, der sich auf der ersten Etappe seiner Reise in vier asiatische Länder vom 3. bis 6. September in Indonesien aufhalten wird. „Wir sind ein Islam, der enge Beziehungen zur katholischen Kirche unterhält: Wir werden dem Papst mit Respekt, Achtung und Freundschaft begegnen und teilen Ideale und eine Vision, nämlich die der Brüderlichkeit und des Friedens zwischen den Völkern und Religionen“, erklärt er.

Um den heutigen indonesischen Islam zu erklären, blickt Ulil auf die Geschichte des Islams in diesem Land zurück, im „Nusantara“ oder „Archipel“, der historischen Bezeichnung für das Gebiet, das Indonesien und Teile der südostasiatischen Region wie Malaysia und Singapur umfasst.
„In dieser Region begann nach den ersten Kontakten mit dem Islam im 7. bis 9. Jahrhundert ab dem 13. Jahrhundert der Prozess der Islamisierung. Der von arabischen Händlern eingeführte Islam wurde von einem großen Teil der Bevölkerung in diesem Land angenommen und wurde schließlich zur Mehrheitsreligion. Der Islam nahm in dieser Region Einflüsse aus den Kulturen, Bräuchen und Traditionen dieses Gebiets auf. Es gab einen Prozess der Anpassung an den lokalen kulturellen Kontext, der in seiner historischen Entwicklung einen bestimmten Typus des Islam hervorbrachte. Wir bezeichnen dies heute als 'Nusantara Islam', um den Islam so zu beschreiben und zu verstehen, wie wir ihn in diesem besonderen Teil der Welt sehen und praktizieren“.
„Unter den besonderen Merkmalen“, fährt er fort, “würde ich eine tiefe Toleranz gegenüber verschiedenen Denkweisen, religiösen Systemen und Kulturen nennen; das friedliche Zusammenleben mit Menschen unterschiedlichen Glaubens; die Fähigkeit, sich der Situation und dem soziopolitisch-kulturellen Kontext anzupassen; sowie Mäßigung, Ausgewogenheit“.

Im indonesischen Islam“, so Ulil Abshar-Abdalla weiter, “ist die Rolle der Frau im öffentlichen und privaten Leben sehr wichtig. Schon seit vielen Jahrhunderten sind Frauen in der Öffentlichkeit stark vertreten“.

Auf historischer Ebene, insbesondere in Bezug auf die Politik, „sollte bedacht werden, dass wir hier keine historische Erfahrung mit einem Kalifat im Sinne des Nahen Ostens oder Nordafrikas haben. Das heißt, es gab historisch gesehen keine Dynastie, die sowohl die politische als auch die religiöse Macht innehatte. Deshalb verlief in Indonesien der Übergang vom traditionellen Staat zum modernen Staat relativ reibungslos, ein Prozess ohne Konflikte auf dieser Ebene (Konflikte gab es mit den Kolonialmächten, Anm. d. Red.). Islamische Religionsvertreter und Bewegungen spielten neben der säkularen nationalistischen Bewegung eine Schlüsselrolle im Widerstand gegen die niederländischen Kolonialherrscher. Wer glaubt, dass nur die säkulare nationalistische Bewegung ausschlaggebend für die Unabhängigkeit war, der irrt: An der Unabhängigkeitsbewegung waren unterschiedliche Menschen beteiligt, Laien, kommunistische Muslime, Menschen aller Couleur. Muslime und ihre Organisationen kämpften für den Aufbau des Nationalstaates“.
Gus Ulil spricht nicht von einem „säkularen Staat“, „in einer angemesseneren Terminologie muss man sagen, dass sie für einen Nationalstaat gekämpft haben. Dieser basierte nicht auf der Religion, aber er hatte auch keine völlig säkulare Grundlage. Es ist also eine Art Mittelweg“. Man habe sich auf die „Pancasila“ geeinigt, die „Charta der fünf Prinzipien“, die die Grundlage des neuen Staates bildete. Dazu gehörte der Grundsatz des Glaubens an Gott, aber auch ein gemeinsamer, vereinender Aspekt für die verschiedenen religiösen, politischen und kulturellen Blöcke, die alle am Aufbau eines neuen Staates beteiligt waren. „Verantwortlich für die Formulierung der „Pancasila“ war Sukarno, der dem nationalistischen Block angehörte, aber ich möchte darauf hinweisen, dass auch er ein gläubiger Muslim war, der der Muhammadhya-Bewegung angehörte. So wurde von Anfang an die öffentliche Rolle der Religion - nicht nur einer Religion - für die Zivilgesellschaft anerkannt“, betont er und erinnert daran, dass „nach der Proklamation unserer Unabhängigkeit eine Gruppe entstand, die für die Schaffung eines islamischen Staates, ‚Darul Islam‘, eintrat.
Deren führender Vertreter Soekarmadji Kartosuwiryo war ein Schulkamerad von Sukarno und entwickelte in den 1940er und 1950er Jahren die Idee, einen islamischen Staat zu schaffen. Er hatte jedoch weder politische Unterstützung noch fand er eine Anhängerschaft unter der Bevölkerung. Er wurde später in den 1960er Jahren hingerichtet. „In jüngerer Zeit“, so fährt er fort, “wurde ein weiterer Versuch von der ‚Jamaah Islamiyah a Indonesia‘ unternommen, die in den 1990er Jahren von Abu Bakar Bashir gegründet wurde. Auch dieser Versuch ist gescheitert. Ende Juni (diesen Jahres, Anm.d.R.) erklärten führende Mitglieder der ‚Jemaah Islamiyah‘ nun die Auflösung der Gruppe. Die Anführer versprachen, nicht mehr zur Gewalt zu greifen und den Terrorismus aufzugeben und erklärten, dass sie die Idee des indonesischen Nationalstaates wieder anerkennen“.
Das heutige Indonesien, so schließt er, „steht vor dieser Art von Herausforderungen. Die politische Vision zielt darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen dem Phänomen der übermäßigen Säkularisierung, bei der Gesellschaft und Kultur jeglichen Bezug zu Gott verlieren, und der Islamisierung zu finden. Dieser Mittelweg ist der Weg, der heute Unterstützung findet. Und er manifestiert sich in einem von der Regierung ins Leben gerufenen Programm namens 'Moderasi beragama', d. h. 'Religiöse Mäßigung', das vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten begleitet wird. „Es ist ein Projekt, das von Organisationen wie Muammhaduya und NU unterstützt wird, breite Akzeptanz genießt und auch in den Schulen durchgeführt wird“.
„Unsere Vision, die von spiritueller Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit geprägt ist, findet ihren Ausdruck in häufigen religiösen Treffen. Der Besuch der beiden führenden Religionsvertreter in Indonesien, die in Abu Dhabi das 'Dokument über die Brüderlichkeit der Menschen für den Weltfrieden und das gemeinsame Zusammenleben' unterzeichnet haben, unterstreicht diese Vision. Der Scheich von Al-Azhar kam im Juli nach Indonesien, der Papst kommt im September. Es sind Besuche, die in die gleiche Richtung gehen, nämlich in die des Dialogs, der guten Beziehungen, der Toleranz und der Geschwisterlichkeit“, stellt er fest.
„Dieses Dokument ist ein Wegweiser für uns. Es wird auch in Indonesien sehr geschätzt, wir verbreiten diesen Geist, indem wir Konferenzen und Seminare organisieren, um es einem größeren Publikum vorzustellen. Wir danken dem Papst dafür. Es ist ein Text, der praktiziert und nicht nur gelesen werden sollte“.
(Fides 29/8/2024)


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