Vatikanstadt (Fides) - Kardinal Fernando Filoni, Präfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, traf sich am Tag nach seiner Rückkehr aus dem Irak, den er als Sondergesandter im Auftrag von Papst Franziskus besucht hatte, mit dem Papst, um über die ihm anvertraute Mission zu berichten.
Im Interview mit Fides spricht der Präfekt der Missionskongregation über Einzelheiten der Mission und persönliche Eindrücke während seines Aufenthalts in dem gemarterten Land.
Eminenz, Ihr Besuch fand im Zeichen der humanitären Notlage der Christen und der anderen Einwohner des Nordiraks statt. Was haben Sie dort gesehen?
Es war eine Mission unter notleidenden Menschen, insbesondere unter den Christen die aus Mossul und der Ninive-Ebene fliehen mussten. Sie mussten ihre Häuser und ihr einfaches alltägliches Leben verlassen und wurden in eine unvorhersehbare Situation hineinkatapultiert. Von einem Tag auf den anderen hatten sie keine Wohnung und keine Kleider mehr, ohne all das, was im Allgemeinen selbstverständlich ist und dort auf einmal nicht mehr existiert. Es gibt dort zum Beispiel bei 47 Grad kein Wasser, um sich zu waschen. Die Menschen schlafen auf den Straßen oder in Gärten, unter einem Baum oder unter einer Plastikplane. Frauen, die sonst einen Haushalt führen, fühlen sich nutzlos und scheinen verwirrt. Kinder sind vielleicht die einzigen, die das dramatische Ausmaß der Lage nicht erfassen, und laufen spielend umher. Alte Menschen liegen in einer Ecke und Kranke wissen nicht, ob es je wieder einen Arzt oder Medikamente geben wird.
Gab es eine Begegnung oder ein Ereignis, das Sie besonders berührt hat?
Eine Mutter zeigte mir ihr drei Monate altes Mädchen und erzählte, dass sie dem Baby bei der Flucht aus Mossul die vergoldeten Ohrringe weggenommen haben. Dabei ist nicht der Wert der Ohrringe bedeutend, sondern die Gewalt und die Geringschätzung gegenüber den Kleinsten. Zu dieser Frau habe ich gesagt: “Sie haben euch die Ohrringe weggenommen, aber das Kostbarste habt ihr noch: euer Kind und eure Würde. Eure würde wurde verletzt, aber niemand kann sie euch nehmen. Diese Botschaft verstanden die Menschen und sie applaudierten.
Wie wurden Sie aufgenommen?
Dass der Papst, da er persönlich nicht kommen konnte, umgehende einen Sondergesandten – keinen Diplomaten, sondern einen persönlichen Gesandten – geschickt hat, war für die Menschen ein bedeutendes Signal dafür, dass er ganz nahe bei ihnen sein wollte. Und ich habe in den Tagen meines Besuchs bei diesen Menschen gelebt. Ich fühlte mich privilegiert, weil ich ein kleines Zimmer für mich hatte und etwas Wasser, um die Hände zu waschen. Aber ich war ganz in ihrer Nähe. Ich war dabei nicht in eigener Mission, sondern im Auftrag des Papstes vor Ort. Und mein Zusammensein mit diesen Menschen war ein Zeichen der Verbundenheit des Papstes. Ich habe christliche und jesidische Siedlungen besucht. Und ich habe am Leben der Ortskirche teilgenommen. Auch Bischöfe, Priester und Ordensleute mussten fliehen und einen Platz zum Schlafen finden. Durch seinen Gesandten wollte der Papst diesen Menschen Mut machen und ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind.
Bei seiner Rückkehr aus Korea bekräftigte der Papst, dass ein Weg, um den ungerechten Aggressor aufzuhalten, im Schoß der internationalen Organismen gesucht werden muss.
Die Kirche wird als solche immer gegen einen Krieg sein. Doch diese armen Menschen haben auch ein Recht darauf, dass man sie schützt. Sie haben keine Waffen und wurden auf feige Art und Weise aus ihren Häusern vertrieben, sie haben nicht gekämpft. Wie kann man das Recht dieser Menschen auf ein würdiges Leben in der eigenen Heimat garantieren? Bestimmt nicht, indem man Gewalt zulässt, sondern in dem man versucht diese Gewalt unbedingt zu verhindern. Doch wir können den Aufschrei dieser Menschen nicht ignorieren, die uns anflehen: helft uns, schützt uns!
Wäre es zu diesem Zweck nicht nützlich vor allem zu erfahren, wer die Dschihadisten mit Waffen und Geld versorgt, um zu versuchen, diese Zufuhr zu stoppen?
Diese Apparate und Gruppen sind bestens mit Waffen und Geld ausgerüstet und man fragt sich tatsächlich, wie es möglich sein kann, dass die Zufuhr von Waffen und Ressourcen denjenigen entgangen sind, die solche tragischen Entwicklungen kontrollieren und verhindern sollen. Oft habe ich gehört, dass man sich die Frage nach der “remote control” stellt, danach, wer die Fäden aus der Ferne zieht. Doch ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht einfach, darauf eine Antwort zu geben.
Sie waren Nuntius im Irak zur Zeit Saddam Husseins. Steht die heutige Krise in irgendeiner Weise in Verbindung mit den Ereignissen des Jahres 2003 und der Art und Weise, wie das Regime damals gestürzt wurde?
Ja und nein. Auf der einen Seite kam es zu einer Erschütterung des Landes, die zahlreiche kritische Situationen und Not hervorgebracht hat, auch wenn man nicht vergessen darf, dass die Situation auch davor keinesfalls ruhig und ideal war. Auf der anderen Seite sind seither zehn Jahre vergangen. Je weiter wir uns von den damaligen Ereignissen entfernen, um so mehr ist die Frage gerechtfertigt, ob die heutige Entwicklung allein Schuld der anderen und der Ereignisse in der Vergangenheit sind oder ob nicht auch andere Verantwortung dafür tragen. Und man muss sich fragen, was in der Zwischenzeit getan wurde oder ob man mehr hätte tun können.
Auch der Papst betont, dass es sich bei den Opfern im Irak nicht nur um Christen, sondern um alle Minderheiten handelt. Weshalb ist diese ausdrückliche Betonung so wichtig?
Natürlich kennt man im Westen die Situation der Christen. Doch es haben sich zum Beispiel auch die Jesiden an uns gewandt, die sie sagen: “Wir sind ein Volk ohne Stimme, über das niemand spricht”. Die dramatische Situation dieser Menschen, die ich vor Ort gesehen habe zeigt, dass sie tatsächlich zu den Hauptopfern gehören. Doch es gibt auch schiitische Dörfer, aus denen alle Einwohner fliehen mussten. Dann gibt es da auch noch die Mandäer und andere Gruppen.
Sie haben mit einflussreichen Politikern sowohl in der Autonomen Region Kurdistan als auch in Bagdad gesprochen. Ist man sich noch über eine mögliche Einheit des Landes einig oder hält man eine Spaltung inzwischen für unvermeidlich?
Der Irak ist ein sehr komplex zusammengesetztes Land. Diese seit 1920 entstandene politische und geographische Auffassung, besagt, dass die Gesamtheit der Nation sich nicht über Einheitlichkeit sondern über Vielfalt definiert. Behörden und die Bischöfe sprechen von einem Mosaik der Völker, Kulturen und Religionen. Sollte dieses Mosaik erhalten bleiben, dann wäre dies natürlich schön und eine mögliche Zukunftsperspektive für das Land. Doch wenn wir beginnen, einzelne Mosaiksteine zu entfernen, dann könnte früher oder später alles auseinander fallen. Die Einheit des Staates wird von der Verfassung garantiert, doch sie muss auch im Leben des Landes stattfinden und dies ist nicht einfach, auch weil einzelne Gruppen Traumata, Leid, Verfolgung oder Ungerechtigkeit erfahren haben. Der Irak befindet sich heute in der Phase des Wiederaufbaus und er wird nur vereint bleiben, wenn diese Einheit auch den Respekt gegenüber den verschiedenen Identitäten umfasst.
Im Westen wird die Entwicklung im Irak von manchen unter dem Aspekt des Gegensatzes zwischen Christentum und Islam dargestellt.
Fakt ist, wie ich bereits gesagt habe, dass von den Aggressionen sowohl Christen als auch Jesiden, Schiiten und sogar Sunniten betroffen sind. Deshalb kann man die Dinge nicht nur unter dem Aspekt der Gegenüberstellung zwischen Islam und Christentum betrachten. Auf der anderen Seite finden diese schrecklichen Aktionen gegenüber den Minderheiten im Namen einer politisch-religiösen intoleranten Ideologie statt. Dies ist ein Aspekt, der zu denken geben sollte. (GV) (Fides 21/8/2014).