VATIKAN - Wie ein sonniger Tag: Das "gute Leben" des Joseph Ratzinger

Samstag, 31 Dezember 2022 papst   katholische kirche   heiliger stuhl   mission   glaube  

Vatican Media

von Gianni Valente
Rom (Fides) - Nach dem Tod des immer schwächer werdenden Joseph Ratzingers ist die Kirche auf dieser Erde noch einsamer. Und auch Papst Franziskus ist nun ganz allein.
Der unvergleichliche Weg des großen Theologen, der zum Nachfolger Petri wurde, war auch ein Weg der „Enteignung“. Von der neugierigen Kühnheit des jungen Studenten, der es liebte, sich mit der ganzen Bandbreite der von der Moderne aufgeworfenen Fragen an das Gewissen und den Zustand der Getauften auseinanderzusetzen, bis hin zu den apostolischen Prüfungen und Leiden der letzten Zeit, die auch aus Angriffen, Medienskandalen und Anklagen bestanden. Die letzten Jahre, in denen die Gebete der Armen ihn begleiteten, werden seinen Blick auf die letzten Dinge noch transparenter gemacht haben.
Es wird vielleicht Jahrzehnte dauern, um die unzähligen Nuancen der Prophezeiung, die er seinen Weggefährten und der ganzen Welt in den vielen Phasen seines langen Lebens – der kleine Junge, der unter dem Nationalsozialismus aufwuchs, der Seminarist, Priester, Theologe, Professor, Bischof, Präfekt der Glaubenskongregation, Papst - vermittelte, voll und ganz zu erfassen, die im heutigen kirchlichen Kontext jedoch aktueller scheinen denn je.
Joseph Ratzinger sagte, dass der Glaube nicht durch ethische Anstrengung, spirituelle Übung oder kulturelle Vertiefung wiederbelebt wird, sondern durch die unentgeltliche und bedingungslose Wiederholung der Gesten der Liebe Jesu in den Tagen der Verwirrung. Die Gnade, schrieb Thomas von Aquin in der Summa Theologica, gewähre den Glauben nicht nur, wenn der Glaube in einem Menschen entstehe wird, sondern so lange, wie der Glaube währe. Genau dieser Satz aus Doctor Angelicus wurde - als ob er das Herzstück des gesamten christlichen Lebens umschreiben würde - in ein Dokument eingefügt, das der Gemeinsamen Erklärung zwischen Katholiken und Lutheranern zur Rechtfertigungslehre beigefügt ist, die in den Jahren, als Joseph Ratziner Präfekt der Glaubenskongregation war, unterzeichnet wurde.
In ähnlicher Weise wiederholte Joseph Ratzinger sein ganzes Leben lang, dass die Kirche Christus gehört, dass sie immer der Erneuerung durch seine Gnade bedarf ("semper reformanda") und dass jede echte kirchliche Erneuerung als eine "Rückkehr zu den Quellen", eine Rückkehr zum Glauben der Apostel, stattfindet. Das war die Intuition des Zweiten Vatikanischen Konzils, das er mit Begeisterung miterlebte, als er als theologischer Experte an diesem großen kirchlichen Ereignis teilnahm: die Entdeckung, dass der fruchtbarste Weg für die Gegenwart und die Zukunft des Christentums die Rückkehr zu den Quellen (ressourcement) ist, um die ganze Breite der Tradition, beginnend bei den Kirchenvätern, auszukosten und uns so auch von dem Missverständnis zu befreien, das die die kirchlichen Apparate der letzten Jahrhunderte als "Tradition" ausgegeben hatten.
Schon in jenen Jahren hatte der künftige Papst - wie aus seinen Berichten vom Konzil hervorgeht - wiederholt, dass in der Kirche jede echte Erneuerung "eine Vereinfachung ist, nicht im Sinne einer Verkleinerung oder Verharmlosung, sondern im Sinne eines Einfachwerdens, einer Hinwendung zu jener wahren Einfachheit alles Lebendigen".
Joseph Ratzinger sagte auch, dass die Gabe des Glaubens kein erworbener Besitz ist, den man sich aneignen kann, und dass sie verloren gehen kann. Auch als Papst hat er unumwunden zugegeben, dass in weiten Teilen der Erde der Glaube wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, zu erlöschen drohe (vgl. Ansprache vor der Vollversammlung der Glaubenskongregation, 27. Januar 2012). Schon lange vorher, als er noch keine 25 Jahre alt war, hatte er in seiner kurzen seelsorgerischen Tätigkeit in einer Pfarrei in München bei vielen jungen Menschen, obschon diese an kirchlichen Ritualen und Initiativen teilnahmen, eine existentielle Entfremdung vom Christentum wahrgenommen. Jahre später nahm er in einem Aufsatz über die "neuen Heiden" ein "innerkirchlichen Heidentums" wahr, das vor allem in Kontexten Wurzeln geschlagen hatte, in denen die kirchliche Zugehörigkeit als "politisch-kulturelle Notwendigkeit", als "Datum unserer spezifisch westlichen Existenz" empfunden worden war.
Joseph Ratzinger hat sich auch mit dem beispiellosen Verlust des christlichen Gedächtnisses befasst, der mit den neuen Prozessen der Entchristlichung einhergeht, wo in Ländern mit einer alten christlichen Tradition das Christentum als "eine Vergangenheit, die die heutigen Menschen nichts angeht" betrachtet wird. Auch die verheerenden Nachrichten über den Missbrauch an Kindern von Geistlichen deutete er als "Verfolgung von innen", die der Kirche durch die Sünden und das Elend der Kirchenmänner selbst erfahre. Und er hat unumwunden anerkannt, dass dies der Kontext ist, in dem die Getauften heute aufgerufen sind, den Glauben zu bekennen, die Hoffnung zu leben und die Liebe zu üben.
Joseph Ratzinger hat gespürt und gesagt, dass die Antwort auf einen solchen Zustand nicht nur darin bestehen kann, den Widerstand in der belagerten Festung zu organisieren und vergangenen Zeiten nachzutrauern. Wenn die Kirche kein anderes Leben als das der Gnade besitzt (vgl. Paul VI., Glaubensbekenntnis des Volkes Gottes, § 19), dann wird die christliche Hoffnung auch in der Zeit des Exodus und des Exils gedeihen. Als Professor und Theologe hatte Joseph Ratzinger 2019 in die Mikrofone eines deutschen Radiosenders gesprochen und die Zeit vorausgesagt, in der die Kirche einen großen Teil ihrer gesellschaftlichen Privilegien verlieren und keine "dominierende gesellschaftliche Kraft" mehr sein würde. Aber er stellte sich einen solchen Zustand als eine Zeit der Läuterung vor, die es allen leichter machen würde, die völlige Abhängigkeit der "Kirche der Mittellosen" von der Gnade Christi zu erkennen, die von "sektiererischer Engstirnigkeit" und "pompösem Eigensinn" befreit und zu einer Wohnstätte wird, "in der man Leben und Hoffnung über den Tod hinaus finden kann".
Joseph Ratzinger sagte schon als Papst, dass die Kirche nicht durch Päpste gerettet wird. Und manchmal können in der Kirche der klerikale Triumphalismus alter und neuer Prägung, die kirchliche Selbstbezogenheit und die permanenten Strukturen (ein Ausdruck, den er im Vorfeld der Ereignisse des Großen Jubiläums des Jahres 2000 verwendete) die fortschreitende Wüste verdecken. Sein eigener Verzicht auf das Amt des Papstes deutet auf etwas Wichtiges über das Geheimnis der Kirche hin.
In seiner letzten öffentlichen Rede als Papst bekannte Benedikt XVI., dass er immer wahrgenommen habe, dass im Boot der Kirche "der Herr ist", auch wenn er zu schlafen scheine, und dass "das Schiff der Kirche“ „nicht unseres“ sei, sondern das seine. Er lasse es nicht sinken; er sei es, der es lenke, gewiss auch durch die Menschen, die er erwählt habe. Auch in seiner Predigt während der Messe zu seinem Amtsantritt hatte Benedikt XVI. gesagt er müsse diese Amt nicht allein tragen. Schon bei dieser Gelegenheit gestand er, dass er kein wahres Regierungsprogramm der Kirche vorlegen wollte, denn "mein wahres Regierungsprogramm besteht nicht darin, meinen eigenen Willen zu tun, nicht meine eigenen Ideen zu verfolgen, sondern mit der ganzen Kirche auf das Wort und den Willen des Herrn zu hören und mich von ihm leiten zu lassen, damit er selbst es ist, der die Kirche in dieser Stunde unserer Geschichte leitet". „Ich brauche in dieser Stunde keine Art von Regierungsprogramm vorzulegen“, so der Papst wörtlich, „Das eigentliche Regierungsprogramm aber ist, nicht meinen Willen zu tun, nicht meine Ideen durchzusetzen, sondern gemeinsam mit der ganzen Kirche auf Wort und Wille des Herrn zu lauschen und mich von ihm führen zu lassen, damit er selbst die Kirche führe in dieser Stunde unserer Geschichte“.
Der große Theologe, der zum Papst wurde und gewohnt war, die Vernünftigkeit des Glaubens auch in akademischen Auseinandersetzungen und in der Konfrontation mit der Gnosis der Moderne zu bezeugen, wollte den Kindern anvertrauen, was sein einzigartiges Glück und der Schatz war, den er im Laufe seines Lebens erhalten hatte. Er tat dies am 15. Oktober 2005, als er den Jungen und Mädchen in Rom, die kürzlich zum ersten Mal die Eucharistie empfangen hatten, vom Tag seiner Erstkommunion erzählte. Er sprach nicht von den Konzepten, die er in Büchern gefunden hatte, von dem Wissen, das er sich angeeignet hatte und das bei ihm und seinen Schülern eine echte theologische "Begeisterung" ausgelöst hatte. "Es war ein sonniger Tag", erzählte er damals und erinnerte sich an "die sehr schöne Kirche, die Musik" und die Fülle einer "großen Freude, weil Jesus zu mir gekommen war". Dann fügte er hinzu: "Ich habe dem Herrn versprochen, so gut ich konnte: 'Ich möchte immer bei dir sein', und ich habe zu ihm gebetet: 'Aber sei vor allem du bei mir'. Und so ging es in meinem Leben weiter. Gott sei Dank hat mich der Herr immer an der Hand genommen und mich auch in schwierigen Situationen geführt. So lief es bis zum Schluss. "Denn wenn wir mit Jesus gehen, geht es uns gut, und das Leben wird gut".
(Fides 31/12/2022)


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