(Russia News)
Von Cosimo Graziani
Neu-Delhi (Fides) - Das für die indische Regierung wenig erfreuliche Ergebnis der Wahlen in der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt hat bei mehr als einem Beobachter den Verdacht geweckt, dass Premierminister Narendra Modi, um den Konsens wiederherzustellen, die stark nationalistische Linie wieder aufgreifen könnte, die ihm vor zehn Jahren die Machtübernahme ermöglichte. Von Anfang an war Modi ein Befürworter des Konzepts "Großindien" oder vielmehr "Unteilbares Indien", das die Wiedervereinigung aller geografischen und politischen Teile des Subkontinents - von Pakistan über Bangladesch bis Sri Lanka - vorsieht, wobei nicht klar ist, in welcher Form.
Die These einer vorhersehbaren Wiederbelebung der nationalistischen Linie kollidiert jedoch in Wirklichkeit mit zwei Fakten.
Erstens hat der gescheiterte Erdrutschsieg in Wirklichkeit nur einen sehr begrenzten Rückgang der gesammelten Stimmen gebracht, der sich auf etwa 1 Prozent beläuft. Es war also kein Einbruch, und Modis Erwartungen wurden nur aufgrund des Multiplikatoreffekts des indischen Mehrheitswahlsystems enttäuscht.
Das zweite Element ist, dass die Bharatiya Janata Party (BJP) und ihr Führer in den letzten zehn Jahren eine im Wesentlichen vorsichtige Außenpolitik betrieben haben. Zwar kam es zwischen 2020 und 2023 zu einer erneuten Überhitzung der Himalaya-Grenze und die Spannungen mit Pakistan ungelöst bleiben ungelöst, doch es ist bemerkenswert, dass keine der beiden Krise den „Point of no Return“ überschritten hat.
Mit der Regierung in Peking konnte dank eines auffälligen Ungleichgewichts im bilateralen Handel eine Beziehung aufrechterhalten werden, die auf gegenseitigem wirtschaftlichem Interesse beruht, bis hin zur Ankunft eines neuen chinesischen Botschafters in Neu-Delhi (das hat es schon lange nicht mehr gegeben). Darüber hinaus ist Indien Vollmitglied der BRICS-Staaten und der Shanghai Cooperation Organization (SCO), wo die Führung fest in chinesischer Hand ist: Modi ist ein effektiver Vertreter jenes Südens der Welt, der mit dem zunehmenden Gewicht einer rasch wachsenden Wirtschaft (ohne die Corona-Pandemie läge der Jahresdurchschnitt bei 7,2 Prozent) auf den Westen blickt.
Selbst die Haltung gegenüber der russischen Invasion in der Ukraine erscheint, wenn man sie nach objektiven Kriterien analysiert, im Wesentlichen "neutral". Mit dem Kreml konnte Indien im Gegenzug für eine Nichtverurteilung vorteilhafte Ölverträge abschließen, die für die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft notwendig waren. Auf der anderen Seite der Skala stehen die intensiven Kontakte mit den westlichen Mächten, die durch die Mitgliedschaft im Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) zwischen Australien, Indien Japan und vor allem den Vereinigten Staaten.
Die indische Regierung ist in den kommenden Jahren vor allem deshalb vorsichtig, weil sie eine stetige und kontrollierte wirtschaftliche Entwicklung sicherstellen muss. Indien ist nicht nur die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, sondern mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern auch das bevölkerungsreichste Land der Erde. Das Durchschnittsalter der indischen Bevölkerung liegt bei 28 Jahren. Das Wachstum der Industrie, der Dienstleistungen, des Finanzwesens und die Verwirklichung der notwendigen Infrastrukturmaßnahmen erfordern Stabilität. Der Premierminister muss Arbeitsplätze schaffen (die Beschäftigungsrate bei Männern liegt bei 36 Prozent, bei Frauen bei 12 Prozent) und die Transformation des Agrarsektors bewältigen, der sowohl in technischer als auch in sozialer Hinsicht dringend modernisiert werden muss. Bisher ist es der indischen Regierung nämlich gelungen, einen unbestreitbaren Pragmatismus mit einer geschickten diplomatischen Arbeit zu verbinden, so dass die Verbindung mit dem Westen, die durch die Vierergruppe repräsentiert wird, das Land zum bevorzugten Partner nicht so sehr der USA als vielmehr Japans gemacht hat (das verspricht, die von Modi benötigte Infrastruktur zu bauen).
China fühlte sich in einem Gebiet wie dem indopazifischen Raum nicht bedroht. Die Märkte der beiden asiatischen Giganten bleiben füreinander offen, und beide können sich im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg an russische Pipelines und die mächtigen Leute, die sie betreiben, binden. Ein Spiel bewundernswerter Balanceakte, das auch dank einer inoffiziellen Partnerschaft mit Frankreich im westlichen Indischen Ozean und eines geschickten Managements der Beziehungen zu Großbritannien (das sich nach dem Austritt aus der EU zunehmend bewusst wird, wie flüchtig die Träume von einer autonomen globalen Politik nach dem Brexit waren) in dem Erfolg mündet, der mit der Ausrichtung des G20-Gipfels im Jahr 2023 erzielt wurde.
Indien beruhigt, Indien ist überall akzeptiert. Warum also sollte sich die Politik ändern?
In Wirklichkeit besteht die Gefahr, auch wenn sie noch lange nicht eingetreten ist. Die Entsendung des neuen chinesischen Botschafters nach Neu-Delhi fand nur wenige Tage vor den Wahlen statt und hatte den Beigeschmack einer Anerkennung und gleichzeitig der Vorbereitung künftiger Absprachen. Doch dann kam das von allen erwartete Wahlergebnis nicht zustande. Eine Überprüfung der Außenpolitik, insbesondere in den bilateralen Beziehungen zwischen China und Indien, könnte also nicht durch Modi, sondern vielmehr durch die Führung Pekings vorgenommen werden, vielleicht gerade im indopazifischen Raum.
(Fides 12/7/2024)