ASIEN/SYRIEN - Patriarchen und Bischöfe rufen zur Wahlbeteiligung auf: “Es ist immer leicht, von außen Lehren zu erteilen”

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30Giorni

Aleppo (Fides) - "Es steht die Wahl des Präsidenten der Republik bevor. Da ist es normal, dass wir das Volk und insbesondere die Christen bitten, an den Wahlen teilzunehmen", so der syrische Bischof Antoine Audo (SJ), der die chaldäischen Diözese Aleppo leitet, zur möglichen Kritik am Aufruf der e Patriarchen und Bischöfe der katholischen Kirchen Syriens, die am Donnerstag, den 20. Mai, gemeinsam die syrische Bürger eingeladen hatten, an den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, die für Mittwoch, den 26. Mai geplant sind (vgl. Fides 21/5/2021).
Nur drei der insgesamt 51 Bewerber wurden vom syrischen Verfassungsgericht als Kandidaten zugelassenen. Oppositionsgruppen haben gefordert, die Wahlen zu boykottieren, da die Wiederwahl des derzeitigen Präsidenten Bashar al Assad, der seit 2000 nach dem Tod seines Vaters Hafez al Assad (der als Präsident Syrien 30 Jahre lang regiert hatte) an der Macht ist, offensichtlich ist . Bei den letzten Wahlen im Jahr 2014 hatte Bashar 88 Prozent der Stimmen erhalten. Nach dem zehnjährigen Konflikt, der das Land verwüstet hat und in den die globalen und regionalen Mächte mehr oder weniger direkt einbezogen waren, will er sich für eine vierte Amtszeit bestätigen lassen.
Der Aufruf der katholischen Patriarchen und Bischöfen zur Wahlbeteiligung teilzunehmen, könnte zu neuer Kritik westlicher Beobachter führen, insbesondere aus Kreisen die die syrischen christlichen Gemeinden lange Zeit beschuldigt haben, sich den von Assad angeführten Machtapparaten unterworfen zu haben. Diese Unterstellungen weist Bischof Audo entschieden ab: "Wir haben die Menschen lediglich gebeten, ihre Pflicht zu erfüllen", bemerkt der chaldäische Bischof gegenüber Fides, "und wir haben keine Wahlpräferenzen geäußert. Wir wissen genau, dass die Mehrheit derjenigen, die zur Wahl gehen, Assad erneut wählen wird, aber über alles hinaus, was Analysten und Gruppen im Westen sagen und tun können, sind wir diejenigen, die hier leben. Wir sind Menschen in diesem Land, wir wissen, wie die Dinge stehen. Wir kennen den syrischen Kontext und die Verhältnisse im Nahen Osten. Wir sind uns der Zusammenhänge mit der breiteren, der geopolitischen Ebene bewusst und wir wissen, dass wir angesichts all dessen keine abstrakten Theorien zur Demokratie brauchen und dass es immer sehr einfach ist, anderen von außen eine Lehre zu erteilen. “
Der chaldäische Bischof äußert sich in diesem Zusammenhang auch zur Gegenwart und Zukunft der christlichen Gemeinschaften im Land im gesamten Nahen Osten . Ihr Zustand und ihre Entscheidungen - bemerkt Antoine Audo – könne man nicht bewertet, wenn man die Prioritäten nicht kenne, die ihre Arbeitsweise zugrunde leiben: "Wir wollen alles Mögliche tun", erklärt der chaldäische Bischof von Aleppo, damit christliche Gemeinschaften ihre Präsenz und ihr Zeugnis im Kontext des Nahen Ostens fortsetzen können, der in diesen Zeiten auch durch den Faktor des islamistischen Extremismus gekennzeichnet ist. Dies ist unsere Priorität, und ausgehend von dieser Priorität müssen die praktischen Entscheidungen, die wir treffen, bewertet werden. Wir versuchen, konkrete Entscheidungen zu treffen, indem wir unter konkreten Umständen dem folgen, was als „wissender“ Geist definiert werden kann. Um in unserem Land bleiben zu können, sollten wir nicht Theorien oder Ideologien zur Schau zu stellen, sondern uns um die Kunst des Zusammenlebens mit muslimischen Mitbürgern bemühen und so das Gefüge des christlichen Lebens in diesem Kontext in der Koexistenz, die wir bereits in der Vergangenheit erlebt haben, wachsen zu sehen. Wir wollen weder Macht noch Geld, sondern nur in der Lage sein, unseren schönen christlichen Glauben auch vor Muslimen zu bezeugen, mit denen wir bereits lange die Erfahrung des Zusammenlebens geteilt haben, mit einem gewissen Respekt und gegenseitigem Zuhören".
Aus seinem Leben als Priester und Bischof berichtet er: "Für mich ist wichtig, dass ich mein Leben und meinen Glauben hier in Syrien unter Muslimen, einschließlich der traditionalistischen oder sogar fanatischen Vertreter der Gemeinschaft leben kann. Manchmal ist es nicht einfach, aber es hilft mir, zur Quelle meines christlichen Glaubens zu gelangen. Ich lebe und spreche weder in Rom noch in Paris noch in New York. Als Ostchrist lebe und arbeite ich hier. Dies ist der Ort, an den Gott mich gesetzt hat, um meinen Glauben zu leben und ein Zeuge Christi zu sein. Ich hoffe, dass es im Westen immer noch Menschen geben wird, die erkennen, was wir heute im Nahen Osten in seinen Schwierigkeiten und Widersprüchen leisten, um uns dann aufrichtig und authentisch mit Respekt für alle wirklich zu helfen”.
Das Erkennen und zur Kenntnis nehmen des gegebenen Kontextes bedeute aber nicht, sich von jeglicher kritischer Reflexion über die Machtstrukturen und die Arbeit der Apparate und politischen Behörden fernzuhalten. „Als Christen und als Bischöfe“, erklärt der chaldäische Bischof, „sind wir auch aufgerufen, das Gewissen zur Freiheit zu erziehen. Dies kann jedoch nur dann fruchtbare Entwicklungen bewirken, wenn wir dem Kontext, in dem wir uns befinden, nicht fremd werden“. In den letzten Jahrzehnten habe sich im Kontext des Nahen Ostens der islamistische Extremismus herauskristallisiert, der nicht zuletzt im Phänomen der dschihadistischen Milizen zum Ausdruck gekommen sei. Auch von diesen Faktor, so Audo lohne es sich zur Kenntnis zu nehmen. "Es scheint mir, dass auch Muslime", so der chaldäische Bischof von Aleppo, weiter nachdachte, "etwas von uns erwarten. Vielen Muslimen fällt es schwer, eine unbeschwerte Beziehung zur Moderne einzugehen, wie sie sich in der westlichen Geschichte und Kultur entwickelt hat. Die Kirche hat sich bereits mit der westlichen Moderne auseinandergesetzt, insbesondere dank des Zweiten Vatikanischen Konzils. Stattdessen betrachten viele Muslime sie weiterhin als eine Gefahr". Deshalb müsse man den Dingen die Zeit geben, um zu reifen, ohne etwas zu erzwingen, und vielleicht sogar die „Überlegenheit“ pluralistischer demokratischer Systeme gewalttätig und arrogant durchzusetzen. "Diese Geduld", betont Bischof Audo, "ist eine authentisch christliche Eigenschaft. Und es scheint mir, dass Papst Franziskus diese Dinge verstanden hat und uns den Weg zeigt. Seine Gesten und Initiativen - wie die Treffen während seiner Reise in den Irak - stellen ein wertvolles Modell dar. Er zeigt uns den Weg, dem wir folgen sollten. Seine Enzyklika 'Fratelli tutti' hilft beim Nachdenken, und ich sehe, dass sich den Weg auch in muslimischen Gesellschaften ebnet. "
Bischof Audo schlägt auch im Hinblick auf das Phänomen des Exodus vieler junger Menschen und vieler junger Christen aus Syrien und dem Nahen Osten vor, die Dinge mit Realismus und Geduld zu betrachten. Das Ausbluten sei eines der Hauptprobleme der lokalen christlichen Gemeinschaften. Viele Gruppen versuchten Christen zu helfen, indem sie Geld schicken und Pläne machen. Doch nach Ansicht von Bischof Audo gibt es keine Zauberformel gibt, um Christen im Nahen Osten zu halten. „Die wirtschaftlichen Aspekte sind wichtig, aber das Wesentliche ist, dass unsere Berufung, unseren Glauben hier zu leben, immer wieder neu entdeckt und bewahrt wird und wir anderen diesen Reichtum mit Respekt, ohne Stolz zeigen“. „Dabei“ so der chaldäische Bischof von Aleppo abschließend, „dürfen wir nicht an die christliche Präsenz im Nahen Osten denken, wie sie vor 50 Jahren war, sondern müssen uns vorstellen wie sie in den kommenden 50 Jahren sein kann. Es scheint mir, dass Muslime auch etwas von uns erwarten. Sie warten darauf zu sehen, dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind und dass wir auch in dieser Zeit, die in weiten Teilen der Welt von Modernität und Säkularisierung geprägt ist, als Männer und Frauen des Glaubens mit Respekt für alle leben.“
(GV) (Fides 24/5/2021)


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